Notiert InBerlin

Die Verrohung des politischen Diskurses

Immer wieder werden Politiker Zielscheibe von Verleumdungen, Hass und Bedrohungen. Allein die vielen Fälle seit Jahresbeginn zeigen, dass etwas in der politischen Auseinandersetzung ins Rutschen gekommen ist.

Die Verrohung des politischen Diskurses

Notiert in Berlin

Die Verrohung des politischen Diskurses

Von Andreas Heitker

Wie in dieser Woche bekannt wurde, hat das Landgericht Berlin der SPD-Politikerin Sawsan Chebli wegen eines Online-Hasskommentars eine Entschädigung von 5.000 Euro zugestanden. Die ehemalige Staatssekretärin für bürgerliches Engagement des Berliner Senats, die sich immer wieder gegen Angriffe in den Sozialen Netzwerken wehren muss, wurde den Richtern zufolge einmal mehr durch „Schmähkritik“ in ihrer Würde und ihren Persönlichkeitsrechten verletzt. Doch Chebli ist nur eine von vielen deutschen Politikern und insbesondere Politikerinnen, die Zielscheibe von übler Nachrede, Verleumdungen, Hass oder ganz konkreten Bedrohungen sind. Allein die zahlreichen Fälle, die seit Jahresbeginn Schlagzeilen machten, zeigen, dass etwas in der politischen Auseinandersetzung ins Rutschen gekommen ist.

Es begann mit einer aufgebrachten – organisierten – Menge, die Vizekanzler Robert Habeck im Januar am Verlassen seiner Nordseefähre hinderte. Es folgten auf Traktoren angebrachte Galgen, mit denen wütende Bauern in Berlin vorfuhren. Die Grünen mussten ihr Aschermittwochstreffen in Biberach aus Sicherheitsgründen absagen. Im Landkreis Gotha wurde ein Brandanschlag auf das Wohnhaus eines SPD-Politikers verübt. Das Wahlkreisbüro der thüringischen Landtagspräsidentin Birgit Pommer (Linke) wurde mit Hakenkreuzen beschmiert. Ihr Parteifreund, Ministerpräsident Bodo Ramelow, sieht hinter den Anschlägen ein größeres strukturelles Problem. Und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) warnt bereits vor einer „Verrohung und Vergiftung des politischen Diskurses“.

Alle Parteien sind von dieser Verrohung betroffen – aber niemand so stark wie die Grünen. Dies zeigen auch Zahlen der Bundesregierung. Demnach wurden im letzten Jahr Repräsentanten beziehungsweise Mitglieder der im Bundestag vertretenen Parteien insgesamt 2.790 Mal Opfer von Straftaten. 44% beziehungsweise 1.219 Fälle davon trafen die Grünen. AfD (478), SPD (420), FDP (299), CDU (194), CSU (101) und Linke (79) blieben weit dahinter. Und die politische Konkurrenz heizt die Stimmung gerne noch weiter an: Laut CSU-Generalsekretär Martin Huber sind die Grünen „hauptverantwortlich für die miese Stimmung im Land“. Für Sahra Wagenknecht sind sie „die gefährlichste Partei im Bundestag“.

Auf lokaler Ebene sieht es nicht besser aus: Laut Bundeszentrale für politische Bildung haben mehr als ein Drittel der Oberbürgermeister und Landräte schon Anfeindungen und Übergriffe erlebt. Eine große Mehrheit der Betroffenen klage über psychische und physische Folgen, hieß es. Vereinzelt gab es deshalb schon Rufe nach einer speziellen Rechtsschutzversicherung für ehrenamtliche Kommunalpolitiker. Sawsan Chebli, die ihre Entschädigung an „Hate Aid“ spenden will, kündigte an, sie werde laut bleiben. In einer Zeit, in der öffentlich über Abschiebung und Remigration diskutiert werde, seien die klaren Worte des Gerichts wichtiger denn je, erklärte sie nach ihrem juristischen Erfolg.

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