Immobilienriese

Evergrande bringt Chinas Immobilienwelt durcheinander

Da man weiß, dass Evergrande längst nicht der einzige Wohnungsbauriese im Reich der Mitte ist, der mit waghalsigen Verschuldungsrelationen hantiert, wächst die Anspannung über Ansteckungsgefahren für den Finanzsektor.

Evergrande bringt Chinas Immobilienwelt durcheinander

Von Norbert Hellmann, Schanghai

Wenn ein Unternehmen Verbindlichkeiten über mehr als 300 Mrd. Dollar in seiner Bilanz bewegt und in einer akuten Liquiditätsklemme steckt, ist dies allemal geeignet, für Nervenkitzel an den Finanzmärkten zu sorgen. Die Existenznöte des chinesischen Immobilienentwicklers Evergrande sind zwar schon seit Monaten ein ernstes Thema für Chinas Finanzmarkthüter, mittlerweile jedoch überträgt sich die Nervosität auch auf westliche Kapitalmärkte. Evergrandes exorbitant hohe Verschuldung beläuft sich auf etwa 2% des Bruttoinlandsprodukts der weltweit zweitgrößten Volkswirtschaft, eine Di­mension, die einem Angst und Bange macht.

Da man weiß, dass Evergrande längst nicht der einzige Wohnungsbauriese im Reich der Mitte ist, der mit waghalsigen Verschuldungsrelationen hantiert, wächst die Anspannung über Ansteckungsgefahren für den Finanzsektor. Nach leidvollen Erfahrungen aus der globalen Finanzkrise von 2008 weiß man, dass eine verschuldungsfinanzierte Im­mobilienmarktblase zu einer Vertrauenskrise im Bankensektor und dann zu gewaltigen nachgelagerten realwirtschaftlichen Verwerfungen führen kann. Die Reminiszenz an den Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers als einem der Auslöser der globalen Finanzkrise von 2008 lässt zahlreiche Marktteilnehmer vom gefürchteten „Lehman-Moment“ für Chinas Finanzmärkte sprechen und verstärkt den Nervenkitzel.

Zentralbank spielt Feuerwehr

Der Fall Evergrande ist freilich anders gelagert, allein schon weil der Zusammenbruch eines Immobilienriesen, anders als bei einer Investmentbank, durchaus verwertbare Assets in Form von Immobilienprojekten hinterlässt. Dennoch können die Größenordnungen bei Evergrande auch eine Immobilienfirma zum „systemischen Risiko“ werden lassen. Entsprechend setzt Chinas Zentralbank nun alles daran, dass die Unruhe über mögliche Kredit- und Bondausfälle nicht auch noch im Interbankenmarkt zu einer Liquiditäts- und dann auch Vertrauenskrise führt und schießt fleißig Mittel in den Geldmarkt ein.

Die People’s Bank of China (PBOC) hatte bereits im Jahr 2018 die damals schon gewaltig überschuldete Evergrande als Systemrisikofaktor eingestuft und im Verbund mit Chinas Bankaufsehern dafür gesorgt, dass heimische Finanzinstitute restriktiver mit der Kreditvergabe an Immobilienentwickler umgehen. Die chinesische Regierung wiederum ließ insbesondere wegen der latenten Sorge um Evergrande im Herbst 2020 eine Art Verschuldungsgrenzenmatrix für Immobilienfirmen mit sogenannten „roten Linien“ als Ober- oder Untergrenzen für Leverage-Quoten beziehungsweise Kapitalabdeckungsrelationen einführen.

Evergrande nahm dies allerdings erst recht zum Anlass, ihre prekäre Lage mit bilanziellen Verschiebe­manövern zu verschleiern. So wurde beispielsweise in der ersten Jahreshälfte das Volumen von zinstragenden Verbindlichkeiten um 145 Mrd. Yuan (19 Mrd. Euro) gesenkt. An einer anderen Ecke der Passivseite aber schwollen Zahlungsverpflichtungen gegenüber Lieferanten und Baukontraktpartnern um 122 Mrd. Yuan an. So wurde zwar in Sachen Übertretung von roten Linien etwas Entwarnung gegeben, die Liquiditätsklemme aber um keinen Deut gebessert.

Eine der wichtigsten Finanzierungsquellen von chinesischen Immobilienentwicklern ist der Vorverkauf von noch zu erstellenden Wohnungseinheiten. Dabei sind die auf die Betongoldanlage fixierten chinesischen Privaten bereit, alle ihre Ersparnisse in die Sicherung eines Wohnungsobjekts hineinzubuttern, um auf die bislang absolut zuverlässige Wertsteigerung von Wohnimmobilien in Chinas Großstädten zu setzen. Wenn sie jedoch Zweifel hegen müssen, dass Evergrande oder andere hoch verschuldete Immobilienentwickler ihren auf Vorkasse beruhenden Bauprogrammen nicht nachkommen können, kommt es zu einem Rückzug der Wohnungskäufer in spe, der eine gigantische Maschinerie durcheinanderbringt und das Immobilienmarktsentiment gefährdet.

Peking macht auf cool

Bislang hat sich die chinesische Regierung mit jedweden Anwandlungen für eine staatliche Auffangaktion des privaten Immobilienriesen zurückgehalten. Dies sicherlich auch, weil man Evergrande für einen Sonderfall hält, dessen wahnwitziges Expansionsstreben und Finanzierungsgebaren nicht stellvertretend für die Branche ist, und „Fehlverhalten“ nicht belohnt werden soll. Gleichzeitig aber kann sich Peking keine sozialen Unruhen durch eine Immobilienkrise und sektorübergreifende Verwerfungen leisten.

Das wahrscheinlichste Szenario ist damit, dass ein systemgefährdender Zusammenbruch von Evergrande dadurch verhindert wird, dass es zu einer Abspaltung der Wohnprojektgesellschaften vom Rest der Evergrande Group kommt und Ever­grandes Cash-flow in erster Linie ­diesen zugutekommt. Das heißt aber freilich auch, dass es früher oder später zu einer Umschuldungsaktion kommt, bei der Evergrande-Gläubiger aus dem Finanzsektor bluten müssen, allerdings in einem kontrollierten Maße und ganz ohne Lehman-Moment.

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