Französische Gewerkschaften

Geeint gegen die Rentenreform

Frankreichs sonst miteinander rivalisierende Gewerkschaften gehen gemeinsam gegen die Anhebung des Rentenalters auf 64 Jahre vor. Die Proteste verändern die Gewerkschaftslandschaft in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Eurozone.

Geeint gegen die Rentenreform

Sie legen Raffinerien und öffentliche Verkehrsmittel lahm, kappen auch schon mal die Stromversorgung oder entführen Unternehmenschefs. Immer wieder sorgen französische Gewerkschaften mit teilweise spektakulären Aktionen für Schlagzeilen. Denn sie schrecken nicht vor rabiaten Maßnahmen zurück. Bei den Protesten gegen die von Präsident Emmanuel Macron gewünschte Rentenreform, die die Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre vorsieht, stehen sie an vorderster Front. Nach zwei Aktionstagen am 19. und 31. Januar wollen sie nun die Proteste verstärken, um den Druck auf die Regierung zu erhöhen, die Reform fallen zu lassen. Deshalb haben sie in der ersten Februar-Woche gleich zu zwei Protesttagen mit Demonstrationen und Streiks aufgerufen: Am 7. und am 11. Februar.

Noch ist unklar, wie der Machtkampf zwischen den Gewerkschaften und der Regierung ausgehen wird. Doch bereits jetzt steht fest, dass die Proteste die Gewerkschaftslandschaft in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Eurozone verändern. Zum ersten Mal, seit sie 2006 gemeinsam gegen den Einstellungsvertrag für Berufsanfänger kämpften, zeigen sich die acht größten französischen Gewerkschaften CFDT, CFT, FO, CFE-CGC, CFTC, Unsa, FSU und Solidaires geeint, zumindest bisher. Die Frage, ob sie ihre Landsleute mit Streiks im öffentlichen Verkehr an Wochenenden und in den Ferien bestrafen sollen, sorgt nun für Diskussionen.

Wer das Vorgehen französischer Gewerkschaften verstehen will, darf einige wichtige historische Unterschiede zu Deutschland nicht vergessen. Während in der Bundesrepublik als Folge des Nationalsozialismus 1949 mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) ein parteipolitisch unabhängiger Dachverband entstand, vertreten französische Gewerkschaften politische Richtungen. Sie stehen politischen Parteien nahe und sind vom Denken her zum Teil noch immer im alten Klassenkampf-Denken verfangen.

Während die Einzelgewerkschaften des DGB entsprechend der im Grundgesetz verbrieften Tarifautonomie selbständig mit der Arbeitgeberseite verhandeln, lehnten das französische Arbeitnehmerorganisationen Verhandlungen lange Zeit ab. Stattdessen ist der Arbeitskampf für sie oft das wichtigste Mittel, um Forderungen durchzusetzen. Erst wird gestreikt, dann verhandelt, lautete lange das Motto. Das Streikrecht hat hier einen verfassungsrechtlichen Rang. Um die Arbeit niederzulegen, genügt es, wenn sich mehrere Arbeitnehmer zusammentun, um berufliche Forderungen geltend zu machen oder bestimmte Rechte zu verteidigen. Im öffentlichen Dienst muss der Streik fünf Tage vorher angekündigt werden.

Auch wenn französische Gewerkschaften mit ihren Streiks und Protesten regelmäßig für Schlagzeilen sorgen und gesellschaftlich durchaus Einfluss haben, sind nur relativ wenige Arbeitnehmer tatsächlich gewerkschaftlich organisiert. Laut den letzten vom Arbeitsministerium zur Verfügung gestellten Daten waren 2019 gerade mal 7,8% der in der Privatwirtschaft angestellten Arbeitnehmer Mitglied einer Gewerkschaft und 10,3% aller französischen Arbeitnehmer. Im öffentlichen Dienst dagegen liegt der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder bei 18,4%.

Damit gehört Frankreich zu den europäischen Ländern mit dem geringsten gewerkschaftlichen Organisationsgrad. Gleichzeitig ist die Gewerkschaftslandschaft zersplittert, so dass verschiedene Organisationen miteinander rivalisieren. Die Proteste gegen die Rentenreform könnten ihnen nun zu einer Renaissance verhelfen. So berichtet die CFDT, seit Januar fast 10000 neue Mitglieder gewonnen zu haben, 40% mehr als sonst.

Die CFDT (Confédération française démocratique du travail) ist seit 2018 die wichtigste Gewerkschaft, da sie bei den Wahlen zu den Betriebsausschüssen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst auf die meisten Stimmen kommt. Die 1964 durch die Abspaltung von der CFTC entstandene, sozialdemokratisch geprägte Gewerkschaft hat mehr als 610000 Mitglieder. Sie gilt als die gemäßigste der acht, als pragmatisch und Reformen gegenüber grundsätzlich aufgeschlossen.

Allerdings hat der Kongress CFDT-Chef Laurent Berger im Juni in einer Kampfabstimmung über Änderungsanträge den Verhandlungsspielraum bezüglich der von Macron geplanten Rentenreform entzogen. Hat die CFDT bis dahin Verhandlungen mit der Regierung befürwortet, lehnt sie nun die Reformpläne pauschal ab. Berger steht seit 2012 an der Spitze der CFDT, hat jedoch im Juni angekündigt, dass er nicht bis zum nächsten Kongress 2026 weitermachen wird. Wer sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin wird, ist unklar.

Die Frage, wer künftig an der Spitze der Gewerkschaft stehen wird, spielt bei der CGT (Confédération générale du travail) auch bei den Protesten gegen die Rentenreform eine Rolle. Die 1895 gegründete und damit älteste Gewerkschaft Frankreichs will Ende März entscheiden, wer Nachfolger von Philippe Martinez wird. Er steht seit 2015 an der Spitze der traditionell der kommunistischen Partei nahestehenden Organisation und schlägt Marie Buisson als seine Nachfolgerin vor. Allerdings gibt es innerhalb der CGT heftigen Widerstand gegen Buisson, eine feministische Lehrerin, die für Umweltschutz eintritt.

Bei den Protesten gegen die Rentenreform könnte der radikale Flügel nun versuchen, sich für die Wahl eines Nachfolgers von Martinez in Stellung zu bringen. Bei den ersten beiden Protesttagen ist ihm zwar klar geworden, dass die Gewerkschaften mehr Gewicht haben, wenn sie gemeinsam auftreten. Doch je näher die Wahl rückt, desto größer die Versuchung, auf sich aufmerksam zu machen. Bisher gibt es nur einen Gegenkandidaten: Olivier Mateu, der als ultraradikal eingestuft wird.

Bereits mehrere Führungswechsel hat die drittgrößte französische Gewerkschaft FO (Force Ouvrière; offizieller Name CGT-FO) hinter sich, nachdem sie seit 2018 mehrere Krisen und Skandale erlebte. Die 1947 durch die Abspaltung einer reformistischen Strömung innerhalb der CGT von der Muttergewerkschaft entstandene Arbeitnehmerorganisation wird seit Juni von Frédéric Souillot geleitet. Der im Gegensatz zu Berger und Martinez der breiten Öffentlichkeit relativ unbekannte FO-Chef gilt als Reformist. Er plädiert dafür, das Renteneintrittsalter wieder von 62 auf 60 Jahre zu senken.

Die FO gilt als antikommunistisch, doch sonst ist sie nicht eindeutig politisch einzuordnen, da sie sich ihre Unabhängigkeit gegenüber den Parteien bewahren will. Der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder, die für den rechtsextremen Rassemblement National von Marine Le Pen gestimmt haben, ist bei der FO höher als bei den anderen Gewerkschaften.

Die 1944 gegründete Gewerkschaft CFE-CGC (Confédération française de l’encadrement – Confédération générale des cadres) vertritt die Interessen leitender Angestellter und Ingenieure. Sie gilt als marktwirtschaftlich und eigentlich als unpolitisch. Seit François Hommeril, ein Geologe und promovierter Physiker, der für die Forschungseinrichtung CNRS und den Aluminiumkonzern Pechiney gearbeitet hat, ihre Leitung 2016 übernommen hat, hat sie jedoch einen Linksruck vollführt.

Während die CFDT bei Betriebswahlen stagniert und die CGT Stimmen verliert, kann die CFE-CGC zulegen. Das habe sie dem Stil von Hommeril zu verdanken, der im Gegensatz zu seinen konzilianten Vorgängern gerne mal provokativ auftrete, meinen Beobachter. Dabei bezeichnet sich die CFE-CGC selbst als unpolitisch. Die CFE-CGC plädiert für einen Renteneintritt ab 60 Jahren, in Abhängigkeit von der Art der Arbeit. Die von Macron gewünschte Rentenreform sei ungerecht, ungerechtfertigt und brutal, kritisiert Hommeril.

Ähnlich argumentiert auch die CFTC (Confédération française des travailleurs chretiens), die sich an der römisch-katholischen Soziallehre orientiert. Sie ist 1919 entstanden. 1964 kam es zur Abspaltung des linken, damals marxistisch orientierten Flügels, der dann in der CFDT aufging. Seit die CFDT einen reformistischen Kurs vertritt, haben sich die Beziehungen zwischen den beiden Gewerkschaften wieder verbessert. An der Spitze der CFTC steht seit 2019 Cyril Chabanier, ein Statistiker, der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften studiert hat. Die CFTC fordert Zugeständnisse bezüglich kleiner Renten und Arbeitnehmern, die früh begonnen haben zu arbeiten.

Die drei anderen Gewerkschaften FSU, Unsa und Solidaires sind weit jünger als die fünf alteingesessenen Arbeitnehmerorganisationen. Die 1993 nach dem Zerfall der Lehrergewerkschaft Fédération de l’éducation nationale gegründete FSU (Fédération syndicale unitaire) vertritt ausschließlich Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes. An ihrer Spitze steht seit 2019 der Geschichts- und Geographieprofessor Benoît Teste.

Die von dem ehemaligen Lehrer Laurent Escure geleitet Unsa (Union nationale des syndicats autonomes) ist ebenfalls 1993 aus dem Zusammenschluss von mehreren Einzelgewerkschaften entstanden. Sowohl Unsa als auch FSU sind gegen die Anhebung des Renteneintrittsalters und die Verlängerung der Beitrittsjahre. Unsa plädiert zudem dafür, dass besonders belastende Arbeitsbedingungen dafür besser anerkannt werden und dass der Beschäftigung von Arbeitnehmern, die älter als 55 Jahre sind, mehr Beachtung geschenkt werden muss.

Die 1981 gegründete Union syndicale Solidaires besteht aus einer Reihe verschiedener SUD-Gewerkschaften und ist vor allem im öffentlichen Dienst vertreten. Sie wird seit 2020 von einer Doppelspitze geleitet, der neben Simon Duteil mit Murielle Guilbert die einzige weibliche Ge­werkschaftsführerin angehört. Solidaires fordert ebenfalls eine Senkung des Renteneintrittsalters von 62 auf 60 Jahre und plädiert zudem für eine 32-Stunden-Woche, um die Arbeit besser auf mehr Leute zu verteilen.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.