Tokio

Mehr Magie als Substanz

Die japanische Gouverneurin Yuriko Koike polarisiert. Nicht zum ersten Mal gelang ihr nun eine überraschende Wende. Zum Leidwesen von Premier Yoshihide Suga.

Mehr Magie als Substanz

Wieder einmal hat Yuriko Koike, Japans einzige Politikerin von landesweiter Bekanntheit und Bedeutung, das einheimische Publikum mit ihren Fähigkeiten verblüfft: Bei den Wahlen zum Stadtparlament von Tokio am vergangenen Sonntag gelang es der Gouverneurin der japanischen Metropole „im Alleingang“, wie ihr die Medien unisono bescheinigten, die Wählerstimmung in letzter Minute völlig zu drehen und die von Demoskopen vorhergesagten heftigen Verluste ihrer Bewegung „Tomin First“ („Tokio-Bürger zuerst“) abzuwenden. „Die Koike-Magie hat wieder gewirkt“, stöhnten ihre politischen Gegner über die völlig unerwartete Wende.

Die Wahlen zum Parlament der Hauptstadt gelten als Indikator für den Ausgang der nationalen Abgeordnetenwahl, die voraussichtlich im September stattfindet. Dabei muss sich Premierminister Yoshihide Suga, der seit September 2020 regiert, erstmals dem Votum der Bürger stellen. Der 72-jährige Chef der Regierungspartei LDP machte jedoch beim Umgang mit der Corona-Pandemie bisher keine gute Figur. Ein klarer Sieg seiner Partei bei der Hauptstadtwahl, wie ihn Analysten und Demoskopen prognostiziert hatten, sollte Suga stärken. Doch am Ende steigerte sich die LDP lediglich von 25 auf 33 Sitze und verfehlte ihr Mindestwahlziel, zusammen mit der buddhistischen­ Komei-Partei die Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung zu gewinnen.

Gouverneurin Koike hatte Suga nämlich einen Strich durch die Rechnung gemacht. Bis zwei Tage vor der Wahl hatte sie auf Wahlkundgebungen verzichtet, schließlich zog sie sich sogar wegen „Erschöpfung“ für über eine Woche in ein Krankenhaus zurück. Dabei hatte Koike die Bewegung „Tomin First“ mitgegründet und ist ihre offizielle „Sonderberaterin“. Diese Zurückhaltung verunsicherte potenzielle Tomin-Wähler. Doch dann stellte sich Koike am vergangenen Freitag auf einer Pressekonferenz plötzlich erstmals laut und deutlich hinter ihre Partei und lobte deren Reformleistungen über den grünen Klee. Zugleich unterstützte sie die populäre Tomin-Forderung, bei den Olympischen Sommerspielen auf Zu­schauer zu verzichten. Als deren Mitveranstalterin hatte sie diese Aussage bisher vermieden.

Der Auftritt war typisch für Koike, die die Volksstimmung bis in die Feinheiten erspürt und dann das bestmögliche Timing für ihre Aussagen und Aktionen wählt. Mit dem Bruch von Traditionen und Tabus sichert sie sich die Aufmerksamkeit der Medien. Ihren Namen machte sie gezielt bekannt, indem sie das für Frauen ungewöhnliche Fach Arabistik studierte, arabische Politiker interviewte und TV-Nachrichtensendungen moderierte. Später gehörte sie zu den „Rebellen“-Abgeordneten von Premier Junichiro Koizumi, wurde Um­welt- und Verteidigungsministerin. Wenn es ihr einen Vorteil einbrachte, wechselte sie die Partei, wobei sie eher auf der rechten Seite des Spektrums blieb. Schließlich trat sie vor fünf Jahren aus der Dauerregierungspartei LDP aus und gründete seitdem zwei neue Parteien.

Ihre politischen Ideen und Programme hatten nie viel Substanz. Am meisten erinnern sich die Japaner an den bis heute üblichen Verzicht auf Anzugjacke und Krawatte während des heißen Sommers. Mit dem Dresscode wollte die damalige Umweltministerin Energie sparen helfen, weil die Büros dank der luftigeren Kleidung nicht mehr so gekühlt werden mussten. Aber ihr eigentliches Ziel besteht bis heute darin, als erste Frau an der Spitze Japans zu stehen. Dafür musste man bisher Chef der LDP werden, doch als sie 2008 kandidierte, verlor sie haushoch gegen den heutigen Finanzminister Taro Aso. Doch der Sensationserfolg in Tokio liefert ihr ein Sprungbrett, um auf die nationale Bühne zurückzukehren.

Bereits am Tag nach der Wahl traf sich Koike mit LDP-Generalsekretär Toshihiro Nikai. Angeblich ging es bei dem Treffen um die Zusammenarbeit von LDP und Tomin First. Aber die japanischen Medien spekulierten sofort, dass Koike in die LDP zurückkehren oder mit Tomin First ins nationale Parlament einziehen will, was sie dementierte. Doch die fast 69-Jährige weiß genau, dass sie ihren Lebenstraum wohl nur noch bei der Parlamentswahl im September verwirklichen kann.