Gewerkschaften

Renaissance einer Macht

Einsparungen und Stellenabbau waren in vielen Unternehmen der Rettungsanker in der Pandemie. In einem fragilen Aufschwung wird er zum Bumerang

Renaissance einer Macht

Nirgendwo ist der Arbeitskräftemangel derzeit auffälliger als in der Luftfahrt. Das tägliche Chaos bei Flughäfen und Airlines ist die Folge eines beispiellosen Stellenabbaus, mit dem die Unternehmen der Branche ihre Kosten zusammengestrichen haben, um in der Coronakrise zu überleben. Nun fehlt es tausendfach an Fachkräften, vor allem aber auch an Dienstleistungspersonal mit einfachem Qualifikationsprofil, bei Gepäckabfertigung, Bodendiensten, Reinigungsarbeiten. Es handelt sich um eine äußerst mobile Belegschaft, die mit geringem Einarbeitungsaufwand branchenübergreifend Beschäftigungsmöglichkeiten findet, überall dort, wo es sonst noch klemmt: allen voran in der Gastronomie und im Hotelgewerbe, aber auch in der Logistik sowie in zahlreichen Service-Funktionen des öffentlichen Dienstes und diesem nahestehenden Bereichen.

Angesichts des extrem angespannten Arbeitsmarktes nutzt das Heer der Beschäftigten die Gunst der Stunde. Eine Streikwelle rollt quer durch Europa, wie sie seit langem nicht gesehen wurde. Bahnbeschäftigte, Arbeiter an Häfen, Flughäfen, auf Ölplattformen und in der Gasförderung, all jene, auf die es in einem von Rohstoffmangel und Energiekrise bedrohten Aufschwung nach der Pandemie ankommt, bedienen den Schalthebel ihrer Macht. Und der ist gewaltig. Infolge des Streiks der Öl- und Gasarbeiter in Norwegen droht ein Ausfall von 60% der dortigen Gasausfuhren nach Europa und Großbritannien – ein alarmierendes Signal vor dem Hintergrund der gedrosselten Gaslieferungen aus Russland, das sogleich zu einem weiteren Anstieg der Gaspreise geführt hat. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Dienstleisters Medrepair wie Staplerfahrer, Schlosser, Reinigungskräfte oder Containerkontrolleure sorgten vor zwei Wochen für einen temporär totalen Stillstand an deutschen Seehäfen; dies angesichts eines nach wie vor erheblichen Staus in der Abfertigung von Containerschiffen, der durch Produktionsausfälle und gerissene Lieferketten weltweit entstanden sind. Nicht zuletzt verstärken Streiks der Belegschaft von Airlines und Fluggesellschaften in der Ferienzeit europaweit das Chaos im Reiseverkehr.

Appellen des Maßhaltens, die von jenen Unternehmen ausgehen, die gerade mit Mühe und Not dem Bankrott entgangen sind, schenkt diese Phalanx des Aufruhrs ebenso wenig Gehör wie Unkenrufen über eine Lohn-Preis-Spirale. Das kann kaum überraschen. Denn zum einen haben die Einkommen dieser vielfach im Niedriglohnsektor angesiedelten Beschäftigten auch gerade in der Pandemie besonders gelitten. Zum anderen können sie aufgrund des Einkommensniveaus auch die derzeit rasant steigenden Preise sehr schlecht verkraften.

Allerdings geht es in diesem Kräftemessen um mehr als einen Ausgleich für entgangene Einkommen oder die Inflation. Vielmehr führen die Streikenden der Gesellschaft ihre zentrale Bedeutung für den reibungslosen Ablauf von Produktion und Service in der gesamten Wirtschaft vor Augen. Und sie fordern im buchstäblichen Sinne mehr Wertschätzung. Im Zuge eines über Jahre rückläufigen gewerkschaftlichen Organisationsgrades, der durch eine oft uninspirierte wie wenig zielführende Interessenvertretung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen genährt wurde, konnten sich gerade die weniger qualifizierten Beschäftigten in unteren Einkommensklassen gegen die Ausbeutung kaum wehren.

Aber auch die große Gruppe von fachlich qualifiziertem Personal musste jahrelang einer stetig wachsenden Kluft zwischen Durchschnittsverdiensten und den Einkommen von Unternehmern und Top-Management zusehen. Die Wirtschaft erkaufte sich einen ausgedehnten konjunkturellen Aufschwung teilweise mit sogar sinkenden Realeinkommen oder zumindest Produktivitätsgewinnen, an denen die Arbeitnehmerseite kaum Anteil hatte. Ausnahmen bestätigen hier die Regel. Dass ausgerechnet die IG Metall mit hohen Lohnsteigerungsforderungen ins Feld zieht, lässt einmal mehr Zweifel aufkommen, ob die Gewerkschaft noch auf der Höhe der Zeit ist. Denn in der von ihr stark dominierten Automobil- und Zuliefererbranche hatten die Beschäftigten erstens noch nie Grund, über ihre Entlohnung zu klagen, und zweitens ist hier von einer vermeintlichen Machtdemonstration abzuraten. Es droht auch ohne diese bereits ein umfangreicher Arbeitsplatzabbau. Während demnach in den traditionellen Leitbranchen die Kampfkraft schwindet, entsteht im Lager der „Schwachen“ ein neues Selbstbewusstsein und eine Stärke, die für viele Unternehmen das Ende der Komfortzone bedeuten dürfte.(Börsen-Zeitung, 8.7.2022)

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