Im BlickfeldMezzogiorno

Süditalien fällt ökonomisch immer weiter zurück

Obwohl Rom und Brüssel seit Jahrzehnten Milliarden nach Süditalien pumpen, ist der ökonomische Abstand zwischen Nord- und Süditalien noch größer geworden. Nun sollen weitere Milliarden aus Europa fließen. Experten bezweifeln, dass es gelingt, damit den Trend umzukehren.

Süditalien fällt ökonomisch immer weiter zurück

Ökonomisch starker Norden, abgehängter Süden

Rom und Brüssel pumpen seit Jahrzehnten Milliarden nach Süditalien. Dennoch wird die Kluft breiter. Neue Hilfen aus Europa sollen die Wende bringen.

Von Gerhard Bläske, Matera

Als Pier Paolo Pasolini 1964 seinen im süditalienischen Matera gedrehten Film „Das 1. Evangelium – Matthäus“ vorstellte, war das für viele Italiener ein Schock. Dass die Menschen dort zusammen mit ihrem Vieh in feuchten Grotten lebten, die in den weichen Tuff gegraben worden waren, legte die Armut und Rückständigkeit Süditaliens für alle offen.

Heute ist Matera ein Touristenmagnet. 2019 war die Höhlenstadt europäische Kulturhauptstadt. In den verschachtelten kubischen Häusern und Grotten sind vielfach luxuriöse Airbnbs, Hotels und Bed & Breakfast eingerichtet worden. Der Wohlstand ist sichtbar in Matera.

Doch insgesamt wächst der ökonomische Abstand zwischen Süd- und Norditalien. Das zeigt der neueste Report der Organisation Svimez über die Situation in Süditalien. Zwischen 1995 und 2020 ist der prozentuale Beitrag des Mezzogiorno zum erwirtschafteten Reichtum Italiens von 24 auf 22% zurückgegangen. Das im Süden erwirtschaftete Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt ist nur halb so hoch wie das im Norden. Und zwischen 2002 und 2021 wanderten 2,5 Millionen Süditaliener ab, vor allem jüngere und gut ausgebildete Arbeitskräfte. Während die Schüler in Norditalien im PISA-Test fast so gut abschnitten wie Europas Klassenbester Estland, erreichten die Pennäler aus Süditalien schlechtere Ergebnisse als ihre türkischen Altersgenossen. 

Dabei pumpen Rom und Brüssel seit Jahrzehnten Milliarden in den Süden. Davon zeugen geförderte Straßen und Brücken, die im Nichts enden oder das einst größte Industrieareal Süditaliens mit Stahl-, Chemie- und Zementwerk im Viertel Bagnoli in Neapel. Die Reste der 1992 geschlossenen Anlagen rosten vor sich hin.

Auch die 2011 geschlossene Fiat-Fabrik im sizilianischen Termini Imerese sucht eine Nachfolgenutzung. Das größte Stahlwerk Europas im apulischen Taranto ist gerade unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt worden und produziert nur mit einem Drittel seiner Kapazität.

Nur zwischen 1950 und 1970 habe sich der Graben ein wenig geschlossen, bilanziert die Ex-EZB-Ökonomin Lucrezia Reichlin, die heute an der London Business School lehrt. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe es „nachhaltige Auswirkungen auf Produktivität und Beschäftigung“ gegeben, so Reichlin. Aber ansonsten sei die Kluft „seit der Vereinigung des Landes 1860 gewachsen“. Das Wirtschaftsmodell Italiens habe immer eher „den Norden begünstigt, nicht den Süden, auch weil entsprechende Reformen gefehlt haben“. 

Die lokale Politik hat laut Reichlin ein zu großes Gewicht, Korruption sei ein nicht auszurottendes Problem, die „Zersplitterung der Entscheidungsprozesse“ hemme. All diese Probleme bestünden bis heute und trügen dazu bei, dass EU-Strukturhilfen nur magere Erfolge brachten.

Doch Europa schüttet erneut ein Füllhorn aus. Italien ist mit 191,5 Mrd. Euro größter Nutznießer des Europäischen Wiederaufbauprogramms NextGenerationEU. 40% davon gehen in den Süden. Zusammen mit weiteren Programmen erhält Rom 237 Mrd. Förder-Euro.

„Eine Jahrhundertchance“, sagt Fabio De Felice, Professor an der Università degli Studi in Neapel sowie Chef und Gründer des IT-Dienstleisters Protom. Doch er beklagt das „Fehlen einer klaren Vision, eines Projekts“. 

Es gibt positive Ansätze. Im Salento, ganz unten am Stiefelabsatz, ist eine starke Schuh- und Taschenindustrie entstanden, die für Christian Louboutin, Gucci, Valentino, Louis Vuitton oder Dior produziert. Auch LVMH-Chef Bernard Arnault ist investiert. 

Und um Neapel existiert ein IT-Cluster. Apple bildet am Vesuv zusammen mit der Universität Federico II jährlich Hunderte von Softwareentwicklern aus. Deloitte hat eine Digital Academy gegründet. Auch die Luft- und Raumfahrtindustrie der Hafenstadt ist sehr leistungsfähig. Der Energieversorger Enel hat im April 2023 im sizilianischen Catania die größte Anlage Europas zum Bau von Solarzellen und Solarpaneelen eröffnet.

Reichlin ist dennoch nicht allzu optimistisch. Im EU-Wiederaufbauprogramm würden nur „existierende Projekte zusammengeführt, es gab keine allgemeinen Überlegungen über Prioritäten und wie vorzugehen ist“, kritisiert sie. Drei Regierungen seit dem Start des Programms seien auch nicht optimal. „Die Investitionen werden sicher das Wachstum ankurbeln. Schwieriger ist es, eine dauerhaft positive Entwicklung in Gang zu setzen. Dazu braucht es eine langfristige Vision.“ 

Der Ökonom Tito Boeri hat ein Buch über das EU-Programm geschrieben. Der Titel „Das große Saufgelage“ spricht Bände. Es sei „plötzlich viel zu viel Geld da“, sagt Boeri. Aber „die Verwaltungen im Süden sind nicht in der Lage, es vernünftig auszugeben“. Auch dass auf Betreiben von Vizepremier und Lega-Chef Matteo Salvini bei Volumen von unter 5,3 Mill. Euro auf Ausschreibungen ganz verzichtet wird, ist nach Ansicht Boeris falsch. Solche Vergaben überforderten die Verwaltungen. Fehlende Kontrollen öffneten zudem kriminellen Organisationen wie Camorra oder Mafia Tür und Tor.

Ivo Allegro, Chef des international tätigen Finanzberaters Iniziativa, stört die Reihenfolge. Dass Geld fließt, bevor die damit verbundenen Reformversprechen umgesetzt wurden: Von einer Justiz- über eine Verwaltungsreform bis hin zur Öffnung von Märkten – Italien liefert nicht. 

Salvinis Giga-Projekt

Salvini trommelt lieber für den Bau einer Brücke zwischen Sizilien und dem Festland. Welchen Nutzen das mit 13,5 Mrd. Euro kalkulierte Giga-Projekt hat, das die EU ebenfalls mit Milliarden unterstützen soll, ist unklar. Wichtiger wäre es, in das Schienennetz insgesamt zu investieren. Mindestens zwei Stunden dauert die Bahnfahrt von Bari in das 60 Kilometer entfernt liegende Matera. Die „schnellste“ Zugverbindung für die 350 Kilometer lange innersizilianische Strecke zwischen Syrakus und Trapani dauert elf Stunden und neun Minuten, bei viermaligem Umsteigen.

Dafür ist ganz Süditalien seit Anfang 2024 eine steuerbegünstigte Sonderwirtschaftszone. Vereinfachte Verfahren, einheitliche Ansprechpartner und niedrigere Steuern sollen Investitionen fördern, die endlich bleibenden Wohlstand schaffen. 

Ist das der richtige Weg? Ökonomin Reichlin glaubt das nicht. „Wir brauchen ausgewählte Sonderwirtschaftszonen“, sagt sie. Es gibt jetzt zu viele von ihnen. „Das hat sich zu einem wahllosen Geldverteilungsmechanismus entwickelt."

Die Reste des Industrieareals von Bagnoli in Neapel rosten vor sich hin.

Europas größte Fertigung von Solarzellen und Solarpaneelen in Sizilien.

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