Italien

Trübe Aussichten, aber Italien ist „too big to fail“

Die wirtschaftliche Situation Italiens verschärft sich drastisch. Und die Perspektiven sind alles andere als rosig.

Trübe Aussichten, aber Italien ist „too big to fail“

Von Gerhard Bläske, Mailand

Der Zinsabstand (Spread) zwischen deutschen und italienischen zehnjährigen Staatsanleihen hat die 200 Basispunkte überschritten. Das ist der höchste Stand seit Jahren. Neben der Eintrübung der makroökonomischen Situation spiegeln sich darin auch die wachsenden Spannungen innerhalb der Regierung unter Premierminister Mario Draghi wider, die ein Jahr vor den Parlamentswahlen zerstrittener ist denn je – ob bei der Katasterreform, Waffenlieferungen an die Ukraine oder der Liberalisierung von Märkten. Die Gefahr ist groß, dass nach den Wahlen wieder Populisten von links oder rechts die Macht übernehmen.

Bis dahin wurstelt sich Draghi durch. Für beinahe alles erhielten und erhalten die Italiener seit der Corona-Pandemie Boni: Für Kuren und Urlaube, für Fahrräder und Mopeds, für Autos und sogar für den Psychologen. Allein 30 Mrd. Euro hat die Regierung seit September 2021 lockergemacht, um die gestiegenen Energiepreise auszugleichen. Dazu kommen die diversen Hilfen für die energetische Sanierung von Häusern und Wohnungen, deren Kosten Rom vollständig übernimmt – unabhängig vom Einkommen. Die Maßnahme hat bereits 40 Mrd. Euro gekostet und kommt vor allem Vermögenden zugute. Der Ökonom Carlo Cottarelli mahnt, Rom sollte die Hilfen „auf die konzentrieren, die sie brauchen“.

Vieles hat Draghi von den Vorgängerregierungen geerbt. Da er die Unterstützung der Parteien braucht, führt er etwa die Boni für die energetische Sanierung fort. Ähnlich teuer ist das bedingungslose Grundeinkommen, das Italien bis Ende 2021 etwa 20 Mrd. Euro gekostet hat und 2022 mit 8,8 Mrd. Euro zu Buche schlägt. Viele Bezieher kombinieren das Grundeinkommen mit Schwarzarbeit. Auch die Absenkung des Rentenalters auf 62, die Draghi nur vorsichtig korrigiert hat, ist ein „Erbe“ der Populistenregierung aus Matteo Salvinis Lega und den 5 Sternen. Italien kann sich das angesichts einer der weltweit niedrigsten Geburtenraten gar nicht leisten.

Italiens Wirtschaft ist 2020 am stärksten eingebrochen und hat 2021 eine der höchsten Wachstumsraten der Eurozone verzeichnet. Das lag vor allem an den umfangreichen Hilfen von mehr als 200 Mrd. Euro aus dem Europäischen Wiederaufbauprogramm sowie der ultralockeren Zinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) und deren Ankaufprogramm für Staatsanleihen. Diese goldenen Zeiten sind vorbei. Die Zinsen steigen, und im ersten Quartal ist die Wirtschaft um 0,2% geschrumpft. Die Ratingagentur Scope erwartet in den kommenden Quartalen ein Nullwachstum. Raffaele Jerusalmi, Senior Advisor des Vermögensverwalters Pictet und Ex-Chef der Borsa Italiana, sieht „viele Schwierigkeiten, die das Wachstum bremsen und blockieren. Kritisch ist vor allem das Thema der Knappheit bzw. der teuren Rohstoffkosten. Energieintensive Branchen haben wegen der gestiegenen Energiepreise riesige Probleme.“ Die gestiegenen Zinsen kosten Italien laut Cottarelli bei der Neuaufnahme von Schulden 3 Mrd. Euro mehr als 2021. Die Reformen, zu denen sich Italien gegenüber Brüssel verpflichtet hat, drohen ins Stocken zu geraten. „Es genügt nicht, Gesetze und Dekrete zu verabschieden. Man muss sie auch umsetzen“, sagt Fabrizio Pagani, Chefvolkswirt des Assetmanagers Muzinich und Ex-Berater der italienischen Regierung.

Draghi versucht die Konjunktur anzukurbeln – auch mit Maßnahmen, die allenfalls ein Strohfeuer entfachen. Und er weitet den Einfluss des Staates in der Wirtschaft „zum Schutz“ heimischer Unternehmen immer weiter aus. Mit „Goldenen Aktien“ kann Rom praktisch überall intervenieren. Der Ukraine-Krieg erhöht die Fragilität. 42% des Primärenergiebedarfs werden mit Gas bestritten, das zu 40% aus Russland kommt. Außerdem werden 17% des Öls und 50% des Kohlebedarfs aus dem Riesenreich bezogen. Laut Roberto Cingolani, Minister für die ökologische Transition, säße Italien im nächsten Winter im Dunkeln, würde Russland vor November den Hahn zudrehen. Laut Industriellenvereinigung Confindustria haben 16% der Unternehmen des zweitgrößten Industrielands der EU ihre Produktion stark einschränken oder schließen müssen.

Dazu kommt, dass Italien die Mittel des Aufbauprogramms gar nicht ausgeben kann. Laut einer Umfrage unter 31 führenden Repräsentanten aus Politik und Wirtschaft wäre es für die Mehrheit der Befragten ein Erfolg, wenn von den 220 Mrd. Euro, die in den kommenden fünf Jahren fließen sollen, zumindest 150 Mrd. Euro ausgegeben würden. „Es fehlen Umsetzungskapazitäten vor allem auf der kommunalen Ebene. Man muss genau schauen, ob die Mittel tatsächlich dahin kommen, wo sie benötigt werden“, sagte Jörg Buck, Geschäftsführer der Deutsch-Italienischen Handelskammer, der Börsen-Zeitung. Dazu kommen eine lähmende Bürokratie und extrem lange Genehmigungsverfahren. Dabei hätte gerade der Süden des Landes großes Potenzial, etwa im Bereich der Wind- und Sonnenenergie.

Das mit 2,7 Bill. Euro verschuldete Land ist „too big to fail“. Deshalb wird Europa das Bel Paese nicht fallen lassen. Draghi weiß das und setzt, im engen Bündnis mit Frankreich und anderen Ländern des „Club Med“, auf eine Aufweichung der Regeln des Stabilitätspakts und ein neues europäisches Hilfspaket mit Krediten und vor allem nicht rückzahlbaren Zuschüssen.

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