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Zweifelhafte Demokratie-Experimente

Welche Rolle können Bürgerräte in einer repräsentativen Demokratie spielen? Die Parteien im Bundestag sind in dieser Frage gespalten. Die Befürworter wollen noch bis zur Sommerpause ein weiteres Beratergremium auf den Weg bringen.

Zweifelhafte Demokratie-Experimente

Notiert in Berlin

Zweifelhafte Demokratie-Experimente

Von Andreas Heitker

Der erste Bürgerrat des Bundestages hat seine Empfehlungen zwar schon im Februar vorgelegt. Debatten und Schlagzeilen zu den Initiativen im Bereich der Ernährungspolitik – etwa dem kostenlosen Mittagessen an Schulen oder der Altersbeschränkung für Energydrinks – wurden aber erst in vergangenen Tagen nachgereicht, da sich erstmals auch die Bundestagsabgeordneten einen kontroversen Schlagabtausch im Plenum dazu lieferten. Schnell wurde klar, dass es über den etwa 50-seitigen Abschlussbericht hinaus um ganz Grundsätzliches ging.

Insbesondere Unions- und FDP-Vertreter lehnten die Einsetzung eines Bürgerrates ab. „Volkssouveränität zeichnet sich in diesem Land ab durch Wahlen und Abstimmungen und nicht durch Auslosungen“, monierte Philipp Amthor von der CDU in Anspielung darauf, dass die 160 ehrenamtlich tätigen Mitglieder des Bürgerrates 2023 ausgelost wurden. Amthor warnte vor einer Schwächung des Parlaments. Und auch Gero Clemens Hocker von der FDP, der die Vorschläge des Rates als oberflächliche „Wünsch-dir-was-Liste“ abtat, verwies darauf, dass eine parlamentarische Demokratie dazu in der Lage sei, auch ohne solche neuen Gremien Lösungen für politische Probleme herbeizuführen.

Wie viele Experimente verträgt eine repräsentative Demokratie?

Neu ist die Idee ja nicht, die Bürger irgendwie noch stärker in politische Entscheidungsprozesse einzubinden. Vor allem mit der weltweiten Verbreitung des Populismus sind solche Ideen wieder gefragt. Nicht nur die „Letzte Generation“ hat sich die Einsetzung eines „Gesellschaftsrates“ auf die Fahnen geschrieben, um endlich die angebliche Meinung des Volkes durchzusetzen.

2019 sorgte beispielsweise ein neuer „Bürgerdialog“ in der deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien weltweit für Aufmerksamkeit. Dieser wurde parallel zum dortigen Regionalparlament quasi als zweite Bürgerkammer dauerhaft installiert. Auch hier wurden die Mitglieder ausgelost. Oder 2021 auf EU-Ebene: Da wurde mit viel Pomp und Pathos die „Konferenz zur Zukunft der EU“ gestartet. Bei dieser bislang einmaligen Bürgerbeteiligung wurden ein Jahr lang zusammen mit Abgeordneten 49 Reformideen für die EU mit 325 konkreten Handlungsempfehlungen entwickelt.

Ideen verschwinden in der Schublade

Die Öffentlichkeit hat von den Experimenten meist nicht viel Notiz genommen. Die Vorschläge der Amateur-Berater – so gut und sinnvoll sie zum Teil auch gewesen sind – verschwanden meist dann doch schnell in den Schubladen. Dieter Rucht, Soziologe und Protestforscher, verwies 2023 in der „Zeit“ darauf, dass die Harmlosigkeit derartiger Beratungsorgane wohl die Aufnahme von Bürgerräten in den Koalitionsvertrag erleichtert habe.

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) hat versprochen, dass sich das Parlament nun ernsthaft mit den vorliegenden Ernährungsinitiativen beschäftigen wird. Und dabei soll es nicht bleiben: Noch vor der Sommerpause soll der nächste Bürgerrat des Bundestages auf den Weg gebracht sein. Ein Thema steht noch nicht fest.

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