Deutschland

Inflation auf höchstem Stand seit 70 Jahren

Die Inflation in Deutschland ist mit 10% auf den höchsten Stand seit den Nachkriegsjahren gestiegen. Das Statistische Bundesamt bestätigte eine erste Schätzung. Bundesbankchef Nagel drängt auf einen „robusten Zinsschritt“ der EZB.

Inflation auf höchstem Stand seit 70 Jahren

Die deutschen Verbraucherpreise sind im September wegen teurer Energie so stark gestiegen wie seit Anfang der 1950er Jahre nicht mehr. Nach dem Wegfall von 9-Euro-Ticket und Tankrabatt kosteten Waren und Dienstleistungen durchschnittlich 10,0% mehr als ein Jahr zuvor, wie das Statistische Bundesamt am Donnerstag mitteilte. Die Behörde bestätigte damit – wie von Analysten erwartet – vorläufige Daten. Im August war noch eine Teuerungsrate von 7,9% verzeichnet worden. „Hauptursachen für die hohe Inflation sind nach wie vor enorme Preiserhöhungen bei den Energieprodukten“, sagte der Präsident des Statistischen Bundesamtes, Georg Thiel. „Aber wir beobachten zunehmend auch Preisanstiege bei vielen anderen Gütern, besonders bei den Nahrungsmitteln.“

Die Europäische Zentralbank (EZB), die sich mit höheren Zinsen gegen die rekordhohe Inflation stemmt, strebt für den Euroraum mittelfristig Preisstabilität bei 2% Teuerung an. Im September betrug der für die Geldpolitik maßgebliche Index HVPI für Deutschland 10,9%.

Bundesbank: 2023 eine 7 vor dem Komma

Die Bundesbank rechnet damit, dass die Inflation in Deutschland auch im kommenden Jahr hoch bleiben wird. Dieses Jahr werde die Teuerungsrate bei über 8% liegen, sagte Bundesbankchef Joachim Nagel am Donnerstag auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundesfinanzminister Christian Lindner in Washington. Und auch 2023 werde die hohe Inflation anhalten. „Ich halte es für wahrscheinlich, dass im Jahresdurchschnitt, und das ist eine Zahl, die Sie jetzt neu von der Bundesbank hören, eine sieben vor dem Komma stehen wird“, sagte Nagel. Bislang hatte die Bundesbank für 2023 mit einer Inflationsrate von über 6% gerechnet.

Die Inflation in den Griff zu bekommen habe höchste Priorität, sagte Nagel. Die aktuellen Daten sprächen für einen robusten Zinsschritt auf der kommenden Sitzung der Europäischen Zentralbank (EZB) am 27. Oktober. Nach den ersten beiden Schritten sei die Notenbank noch ein deutliches Stück weg vom sogenannten neutralen Zinsniveau. Unter Fachleuten wird so das Zinsniveau bezeichnet, das eine Volkswirtschaft weder anschiebt noch bremst. Auch müsse die EZB das Thema eines Abbaus ihrer Anleihebestände angehen, sagte der Bundesbank-Chef. Im EZB-Rat müsse man sich zügig darüber verständigen. „Und nach meiner Auffassung sollte dann 2023 dieser Abbau beginnen“, fügte er hinzu

Preistreiber Energie

Energie kostete im September 43,9% mehr als ein Jahr zuvor. Dabei haben sich die Preise für leichtes Heizöl binnen Jahresfrist mit plus 108,4% mehr als verdoppelt, die Teuerung für Erdgas betrug 95,1%. Für Strom wurden 21% mehr verlangt, für Kraftstoffe 30,5% mehr. Nahrungsmittel verteuerten sich um 18,7 %. „Insgesamt hat sich der Preisauftrieb hierfür seit Jahresbeginn sukzessive verstärkt“, so die Statistiker. Erheblich teurer wurden Speisefette und Speiseöle (+49,0%) sowie Molkereiprodukte und Eier (+29,1%). Auch für Fleisch und Fleischwaren (+19,5%) sowie für Brot und Getreideerzeugnisse (+18,5%) erhöhten sich die Preise für Verbraucherinnen und Verbraucher spürbar.

11 Prozent in der Spitze erwartet

Das Ende der Fahnenstange ist damit noch nicht erreicht. „Die Inflationsrate dürfte in den kommenden Monaten auf jeden Fall auf 11% steigen“, sagte Ifo-Konjunkturchef Timo Wollmershäuser kürzlich. Auch als Folge der stark gestiegenen Energiepreise wollen viele Unternehmen die höheren Kosten an ihre Kunden weiterreichen, wie das Münchner Ifo-Institut bei seiner Umfrage herausfand. Demnach planen etwa alle Lebensmittelhändler mit Preiserhöhungen. „Das birgt natürlich sozialen Sprengstoff, denn die Haushaltseinkommen steigen weit weniger“, sagte Wollmershäuser. Ab 2023 dürfte dann die von der Bundesregierung angekündigte Gas- und Strompreisbremse wirken.

Abwehrschirm senkt Preise kurzfristig

Um Verbraucher und Unternehmen wegen der stark steigenden Energiepreise zu unterstützen, hat die Bundesregierung einen Abwehrschirm von bis zu 200 Mrd. Euro angekündigt. Davon soll auch die geplante Gaspreisbremse finanziert werden. Diese dämpft laut Prognose des Bundeswirtschaftsministeriums den Anstieg der Verbraucherpreise im kommenden Jahr. Die Bundesregierung rechnet mit einer Inflationsrate von durchschnittlich 8,0% im laufenden Jahr und von 7,0% im kommenden Jahr. Ohne die geplanten Preisbremsen bei Strom und Gas wären es nächstes Jahr noch deutlich mehr, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck. Für 2024 kalkuliert die Regierung mit einer Inflation von 2,4%. Habeck verwies bei der Vorlage der Regierungsprognose am Mittwoch auf die steigenden Leitzinsen in Europa. „Das wird sicherlich wirken.“ Außerdem dürften die Energiepreise – der Haupttreiber der Inflation – 2024 nachlassen durch staatliche Maßnahmen sowie ein ausgeweitetes Angebot.

Teuerung historisch hoch

Inflationsraten auf dem aktuellen Niveau gab es im wiedervereinigten Deutschland noch nie. In den alten Bundesländern wurden Raten von 10% und mehr Anfang der 1950er Jahre gemessen, allerdings hat sich die Berechnungsmethode im Laufe der Zeit geändert.