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Berliner Gründerin macht „Grüne Chemie“ real

Die globale Chemie- und Pharmaindustrie ist eine CO2-Schleuder – und zudem massiv von Niedriglohnländern wie China oder Indien abhängig. Mit ihrem „Green Chemistry“-Start-up Dude Chem will Sonja Jost gleich beide Probleme angehen. Dafür hat sie von Investoren nun eine Finanzspritze von 6,5 Mill. Euro erhalten.

Berliner Gründerin macht „Grüne Chemie“ real

Gründerin Jost macht „Grüne Chemie“ real

kro Frankfurt

Zu ihrem 44. Geburtstag darf sich die Seriengründerin und Vizepräsidentin der IHK Berlin, Sonja Jost, über ein ganz besonderes Geschenk freuen: Die Chefin des Berliner „Green Chemistry“-Start-ups Dude Chem hat mit ihrem Gründungsteam soeben eine Seed-Finanzierungsrunde in Höhe von 6,5 Mill. Euro unter Dach und Fach gebracht – und kann nun ein Ziel in Angriff nehmen, an das sich die deutsche Wagniskapitalszene bislang eher selten herangetraut hat: „Wir wollen die chemische Industrie neu definieren“, sagt Jost im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. „Es ist komplett klar, dass die heutige Art der Chemieproduktion nicht die Chemie der Zukunft sein wird.“

Die heutige Art der Chemieproduktion ist vor allem eins: dreckig. Laut der Internationalen Energieagentur IEA gibt es keinen anderen Industriesektor, der einen größeren Energieverbrauch hat. Zudem liegt die Branche auf Platz 3 der größten industriellen CO2-Emittenten – hinter der Stahl- und Zementbranche.

Bereits seit 1998 gibt es allerdings ein in der Branche durchaus bekanntes wissenschaftliches Rahmenwerk, das diesen Zustand verändern soll. Das Konzept der „Grünen Chemie“ basiert auf zwölf Prinzipien, die darauf abzielen, die ökologischen und gesundheitlichen Auswirkungen der chemischen Produktion zu verringern. Erarbeitet wurde es von den Chemikern Paul T. Anastas und John C. Warner. Letzterer gehört heute zum Forschungsteam von Dude Chem, deren Name sich von „duodecim“ ableitet, dem lateinischen Begriff für „zwölf“.

Wasser statt Erdöl

Das 2019 gegründete Start-up will aus den Leitlinien nun gelebte Praxis machen. Dafür setzt es unter anderem patentierte Verfahren zur Produktion chemisch-pharmazeutischer Wirkstoffe ein, die nicht wie üblich auf erdölbasierten Lösungsmitteln, sondern auf Wasser basieren. Dabei positioniert sich Dude Chem als virtueller Hersteller. „Wir machen alles, was ein normaler Hersteller auch macht, also zum Beispiel die Prozessentwicklung oder Kundenverhandlungen. Nur die physische Produktion findet nicht bei uns statt“, erklärt Jost den Asset-light-Ansatz. „Für die physische Herstellung arbeiten wir mit einem Netzwerk an europäischen Produzenten zusammen und unterstützen sie mit neuesten computergestützten Modellen dabei, unsere grünen Verfahren in ihren Anlagen zu implementieren.“

Dude Chem ist bereits die zweite Gründung der Unternehmerin, die sich in ihrem Studium an der Technischen Universität Berlin auf das Wirtschaftsingenieurwesen mit Technischer Chemie spezialisiert hat. 2013 hatte sie DexLeChem an den Start gebracht, einen Entwicklungsdienstleister für die Chemiebranche, aus dem heraus Dude Chem entstanden ist. „Bei unseren Projekten in Europa haben wir einen tiefen Einblick in die Branche bekommen und unsere gute Reputation aufbauen können. Später haben wir uns dann entschlossen, selbst in die chemische Produktion einzusteigen – nur eben mit einem virtuellen Geschäftsmodell und Fokus auf nachhaltig hergestellte Chemikalien“, erzählt Jost, die ihre Gründungserfahrungen auch schon als Vorständin im Start-up-Verband eingebracht hat.

Die innovativen Verfahren des Start-ups haben laut der Managerin nicht nur einen ökologischen, sondern auch einen Kostenvorteil. Einem großen europäischen Generikaunternehmen könne man etwa ein Produkt zur Behandlung von Bluthochdruck bereitstellen, das dieses bislang zu 100% aus Indien bezogen habe. „Wir konnten ihm einen geringeren Preis anbieten als das, was er momentan in Indien bezahlt“, sagt Jost. Neuartige Verfahren könnten so also auch dabei helfen, die teils massiven Abhängigkeiten der europäischen Pharmaindustrie von Ländern wie Indien oder China zu reduzieren.

Vom Outsourcing zu Engpässen

Das Problem war vor allem im Laufe der Corona-Pandemie ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Infolge umfassender Lockdowns in China und bestimmter Arzneimittel-Exportverbote in Indien war es in Europa zu Engpässen bei wichtigen Medikamenten gekommen. Laut einem Bericht des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 2020 stammten zu dem Zeitpunkt 60 bis 80% aller importierten pharmazeutischen Vorprodukte aus den beiden Ländern.

Jost sieht hierin auch ein Ergebnis vergangener Management-Entscheidungen in der Pharmaindustrie. „Man hat sich die niedrigeren Lohnkosten und Umweltstandards in den Ländern zunutze gemacht und Kosten in der Produktion durch Outsourcing gedrückt“, so die CEO. „Man hat aber nie versucht, durch eine andere Art von chemischer Produktion Kosten zu sparen.“

Womöglich lag und liegt das auch an den generellen Schwierigkeiten der Branche, Wachstumskapital für Innovationen einzusammeln. In einer vom Verband der Chemischen Industrie in Auftrag gegebenen ZEW-Studie vom Oktober 2022 kamen die Autoren zu dem Schluss, dass Venture-Capital-Investoren in der Chemieindustrie ein vergleichsweise geringes Engagement zeigen, was unter anderem an den langen Entwicklungszeiten und den hohen Kosten einer Skalierung von Produktion und Vertrieb liegen könnte. Es gibt dabei aber auch internationale Unterschiede: In Relation zum BIP lagen die VC-Investitionen in Chemie-Start-ups in Deutschland in den vergangenen Jahren unter denen von Frankreich und Großbritannien – und deutlich unter dem europäischen Durchschnitt.


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