Recht und Kapitalmarkt

Der Aufsichtsrat ist bei Siemens in der Pflicht

Das Vorgehen gegen ehemalige Vorstandsmitglieder ist rechtlich geboten und angemessen

Der Aufsichtsrat ist bei Siemens in der Pflicht

Von Mathias Habersack *)Das Vorgehen des Aufsichtsrats der Siemens AG gegen ehemalige Organmitglieder dieser Gesellschaft, allen voran den langjährigen Vorsitzenden des Vorstands und sodann auch des Aufsichtsrats, Heinrich v. Pierer, stößt in den Medien auf großes Interesse. Allzu verwunderlich ist dies nicht, bildet doch die Inanspruchnahme amtierender oder ausgeschiedener Vorstandsmitglieder börsennotierter Gesellschaften auf Schadenersatz hierzulande nach wie vor die Ausnahme.Handelt es sich gar um einen “prominenten” Fall, so besteht freilich die Gefahr, dass es zu Übertreibungen kommt oder Fehlvorstellungen geweckt werden, zumal wenn strafrechtliche und zivilrechtliche Würdigung der Vorgänge vermengt werden oder, wie das bisweilen im Falle Siemens geschieht, die Angelegenheit als “Privatfehde” zwischen dem Vorsitzenden des Aufsichtsrats, Gerhard Cromme, und Pierer dargestellt wird. Eine gewisse Versachlichung der Diskussion scheint ratsam. Betrachtet man zunächst die aktienrechtliche Ausgangslage, so sind drei Grundsätze von Bedeutung. Andere AusgangslageZum Ersten bestimmt 93 Abs. 2 AktG, dass Vorstandsmitglieder, die ihre Sorgfaltspflichten gegenüber der Gesellschaft verletzen, der Gesellschaft zu Schadenersatz verpflichtet sind und im Streitfall ihnen der Nachweis obliegt, dass ein pflichtwidriges Verhalten nicht vorliegt. Gänzlich anders ist bekanntlich die Ausgangslage im Strafrecht; es vermutet nicht nur die Unschuld des Beschuldigten, sondern stellt grundsätzlich nur vorsätzliches Verhalten unter Strafe. Schon deshalb ist es schief, aus der Tatsache, dass ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren nicht eröffnet ist, irgendetwas in Bezug auf die zivilrechtliche Verantwortlichkeit herleiten zu wollen. Ist von einem pflichtwidrigen und zudem schadenstiftenden Verhalten des Vorstandsmitglieds auszugehen, so ist der Aufsichtsrat, das ist der zweite Grundsatz, gehalten, den Schadenersatzanspruch der Gesellschaft gegen das amtierende oder frühere Vorstandsmitglied zu verfolgen, will er vermeiden, selbst wegen Verletzung der ihm obliegenden Überwachungspflichten in die Haftung genommen zu werden. Relevante EntscheidungVon der Verfolgung absehen darf der Aufsichtsrat nach den vom Bundesgerichtshof (BGH) in der berühmten “ARAG/Garmenbeck”-Entscheidung vom 21. 4. 1997 (II ZR 175/95) entwickelten Grundsätzen nur dann, wenn gewichtige Gründe des Gesellschaftswohls dagegensprechen; derlei Gründe sind freilich, wenn der Vorwurf ohnehin publik ist und die Haftung ehemaliger Vorstandsmitglieder in Frage steht (ein Interesse der Gesellschaft, das verantwortliche Vorstandsmitglied im Amt zu halten, also nicht besteht), nicht ersichtlich.Dem Siemens-Aufsichtsrat bleibt danach also, wenn er von einem sorgfaltswidrigen Verhalten ehemaliger Mitglieder des Vorstands überzeugt ist, gar nichts anderes übrig: Er muss den Anspruch verfolgen, mag er sich auch gegen eine Person richten, die sich um das Unternehmen verdient gemacht hat. Würde der Aufsichtsrat von der Anspruchsverfolgung absehen, würde er sich nicht nur selbst dem Risiko der Haftung aussetzen. Es wäre dann vielmehr damit zu rechnen, dass eine Aktionärsminderheit von ihrem Verfolgungsrecht nach 148 AktG Gebrauch machen (und vermutlich sogleich Ansprüche gegen die pflichtvergessenen Aufsichtsratsmitglieder mitverfolgen) würde; hierzu imstande sind Aktionäre schon dann, wenn sich ihre Anteile zusammen auf 1 % des Grundkapitals oder auf den anteiligen Betrag von 100 000 Euro belaufen.Hier nun kommt der dritte Grundsatz ins Spiel: Nach 93 Abs. 4 S. 3 AktG kann die Gesellschaft erst drei Jahre nach der Entstehung des Anspruchs und nur dann auf Ersatzansprüche verzichten oder sich über sie vergleichen, wenn die Hauptversammlung zustimmt und nicht eine Minderheit, deren Anteile zusammen 10 % des Grundkapitals erreichen, widerspricht.Eine Bereinigung der Angelegenheit durch Vergleich ist gewiss sinnvoll, kann doch so das Kapitel der Korruptionsvorgänge abgeschlossen und zudem die Geltendmachung von Schadenersatzforderungen in einer Höhe, die die verantwortlichen Vorstandsmitglieder ihrer wirtschaftlichen Existenzgrundlage berauben würde, vermieden werden. Indes soll dies nur mit Zustimmung der Aktionäre möglich sein, die schließlich den Schaden zu tragen haben und deshalb über den Vergleich, wenn er denn zustande kommt, in der Siemens-Hauptversammlung am 26. 1. 2010 beschließen sollen. Hieraus wiederum erklärt sich die Befristung des Vergleichsangebots.Es ist im Übrigen unwahrscheinlich, dass die ehemaligen Vorstandsmitglieder einen Großteil ihres privaten Vermögens einbüßen müssten, wenn sie den Vergleichsvorschlag annähmen. Die Höhe der vorgeschlagenen Ersatzleistung bewegt sich nach Presseberichten zwischen 500 000 und 6 Mill. Euro. Die Erfahrung spricht dafür, dass die ehemaligen Vorstandsmitglieder über Ansprüche gegen die Gesellschaft (insbesondere Pensionsansprüche) verfügen, die in ihrer Größenordnung nicht hinter den genannten Beträgen zurückbleiben, sodass ihr übriges Vermögen unberührt bleiben könnte. Derlei Milde hat etwa ein Arzt oder Anwalt, der sich wegen einer fahrlässig begangenen Pflichtverletzung zu verantworten hat, nur in den seltensten Fällen zu erwarten. AnhaltspunkteSelbstverständlich setzt das Vorgehen des Siemens-Aufsichtsrats voraus, dass hinreichende Anhaltspunkte für ein sorgfaltswidriges Verhalten der ehemaligen Vorstandsmitglieder vorliegen. Aus zivilrechtlicher Sicht interessiert insoweit vor allem, ob die Mitglieder des Vorstands ein funktionsfähiges Compliance-System eingerichtet und die Funktionsfähigkeit des Systems hinreichend überwacht und Fehlverhalten geahndet haben.Anlass zu alledem bestand, nachdem im Jahre 1999 zunächst die Bestechung ausländischer Amtsträger und dann im Jahre 2002 auch die Bestechung von Mitarbeitern ausländischer Unternehmen unter Strafe gestellt worden ist. Zudem wurde die Siemens-Aktie im Jahre 2001 an der New Yorker Börse zugelassen, sodass Siemens seither den strengen Vorgaben des U.S. Foreign Corrupt Practices Act unterliegt.Von einer Verletzung der einschlägigen Organisations- und Überwachungspflichten wäre gewiss auszugehen, hätte der Zentralvorstand Kenntnis von Verdachtsfällen und sonstigen Warnsignalen erhalten und gleichwohl die Dinge laufen lassen. Wenn nach der Überzeugung des Aufsichtsrats hinreichende Warnsignale vorlagen und dennoch alles beim Alten belassen wurde, würde derlei Nachlässigkeit die verantwortlichen Vorstandsmitglieder zum Ersatz des der Siemens AG hierdurch entstandenen Schadens verpflichten.Allein die gegenüber Siemens verhängten Geldbußen belaufen sich dem Vernehmen nach auf mehr als 1,2 Mrd. Euro; hinzu kommen Beratungskosten und Steuerschäden, aber auch die geleisteten Schmiergelder, wobei die durch diese Gelder generierten Gewinne längst durch Verfallszahlungen abgeschöpft sein dürften. Die vergleichsweise angebotene Zahlung hätte vor diesem Hintergrund eher symbolischen Charakter.Von Maßlosigkeit kann nach allem keine Rede sein. Der Aufsichtsrat der Siemens tut, was er zu tun hat, und er tut dies zunächst mit Augenmaß, müsste aber, wenn der Vergleich scheitert, einen Gang zulegen. DifferenzierungWenn es dann zum Rechtsstreit kommt, spielt das Maß der individuellen Verantwortung für die entstandenen Schäden keine Rolle mehr; es riskiert dann vielmehr jeder, der auch nur leicht fahrlässig gehandelt hat, den Verlust seines ganzen Vermögens. Dagegen ist es bei einem von der Hauptversammlung gebilligten Vergleich möglich und auch sachgerecht, schematisch nach der unterschiedlichen Stärke der Kontrollpflichten und der Verdachtsmomente zu differenzieren, wie es mit dem Vorschlag des Aufsichtsrats offenbar beabsichtigt ist.—-*) Professor Dr. Mathias Habersack lehrt Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.