Recht und Kapitalmarkt - Interview mit Hans-Christoph Ihrig

Konzerne müssen Abweichungen vom Kodex künftig begründen

"Bloße Leerformeln" dürften nicht hinreichend sein

Konzerne müssen Abweichungen vom Kodex künftig begründen

– Herr Dr. Ihrig, mit dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz kommt es zu einer Reihe von Änderungen in den Rechnungslegungsvorschriften. Der Gesetzgeber ändert bei dieser Gelegenheit auch den Inhalt der Kodexerklärung nach 161 Aktiengesetz. Worum geht es?Nach bislang geltender Rechtslage haben Vorstand und Aufsichtsrat börsennotierter Unternehmen jährlich zu erklären, dass den Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex entsprochen wurde und wird oder welche Empfehlungen nicht angewendet wurden und werden. Zukünftig besteht darüber hinaus die Verpflichtung, Abweichungen von Empfehlungen des Kodex auch zu begründen. Es wird also das Prinzip des “comply or explain” im Gesetz mit Bindungswirkung für die Erklärungspflichtigen verankert.- Was ist der Anlass für diese gesetzliche Änderung?Aufgrund einer Änderung der Bilanzrichtlinie sind die EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, das Prinzip “comply or explain” mit Bindungswirkung nunmehr gesetzlich zu verankern. Das Prinzip des “comply or explain” galt schon bisher insofern, als der Kodex die Empfehlung enthielt, Abweichungen von Kodexempfehlungen nicht nur zu erklären, sondern auch die Gründe hierfür mitzuteilen. Nicht wenige Unternehmen folgten dieser Empfehlung und haben deshalb die Abweichung von Kodexempfehlungen begründet; demgegenüber haben sich zahlreiche Unternehmen darauf beschränkt, Kodexabweichungen lediglich mitzuteilen.- Was bedeutet dies konkret für die Unternehmen, die bislang Kodexabweichungen nicht begründet haben? Müssen sie unverzüglich nach Inkrafttreten der gesetzlichen Änderung ihre Kodexerklärung ergänzen?Nein, eine solche Verpflichtung ergibt sich aus der gesetzlichen Neuregelung nicht. Es bleibt dabei, dass die Kodexerklärung nur einmal im Jahr abzugeben ist. Ein Anlass, Abweichungen von Kodexempfehlungen zu begründen, besteht also erst bei Abgabe der nächsten turnusgemäßen Kodexerklärung.- Der BGH hat jüngst in einem Grundsatzurteil festgestellt, dass Unternehmen unter bestimmten Voraussetzungen verpflichtet sind, ihre Kodexerklärung ad hoc, also auch unterjährig, zu korrigieren. Warum ist diese Rechtsprechung hier nicht einschlägig?Die BGH-Entscheidung, die Sie ansprechen, betrifft den Fall, dass sich ein Unternehmen in Widerspruch zu der eigenen Kodexerklärung setzt, indem es von einer Empfehlung des Kodex abweicht, ohne diese Abweichung vorher erklärt zu haben. Dem Urteil liegt der zutreffende Befund zugrunde, dass die Kodexerklärung einen zukunftsgerichteten Teil beinhaltet, nämlich eine Verhaltensankündigung im Umgang mit den Kodexempfehlungen, auf die der Kapitalmarkt vertrauen darf. Zwar sind die Unternehmen frei darin, jederzeit von Kodexempfehlungen abzuweichen. Sie müssen dies aber, sofern sie die Nichtanwendung nicht in ihrer letzten Kodexerklärung offengelegt haben, vorher erklären.- – Dies strahlt nicht aus?- Mit der gesetzlichen Neuregelung, Abweichungen vom Kodex zu begründen, werden die aktuell abgegebenen unbegründeten Erklärungen der Unternehmen nicht unrichtig im Sinne eines Widerspruchs zwischen erklärtem und tatsächlichem Verhalten im Umgang mit den Kodexempfehlungen. Anders als in dem vom BGH entschiedenen Fall wird das grundsätzlich schutzwerte Vertrauen des Publikums, dass sich die Gesellschaften in Übereinstimmung mit ihrer der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Kodexerklärung verhalten, nicht gefährdet.- Welche Anforderungen sind an die zukünftig erforderliche Begründung zu stellen?Weder im Gesetz noch in den Gesetzesmaterialien finden sich Hinweise, welchen Umfang die Begründung haben muss. Man wird wohl auf den Zweck des Gesetzes abstellen; dieser dürfte darin liegen, dass es dem Publikum ermöglicht werden soll, nachzuvollziehen, warum eine vom Kodex ausgesprochene Empfehlung nicht angewendet werden soll. Eine bloße Leerformel etwa der Art, dass man die Empfehlung nicht für sachgerecht hält, dürfte deshalb nicht hinreichend sein. Vorstand und Aufsichtsrat werden angeben müssen, warum sie dieser Auffassung sind. Dies allerdings kann in einem knappen Satz geschehen.- Wie ernst müssen es die Unternehmen mit der Kodexerklärung nehmen?Verletzungen der Verpflichtung zur Abgabe einer vollständigen und richtigen Kodex-Erklärung können zur Anfechtbarkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen führen und ggf. auch Haftungsrisiken für die Organmitglieder begründen. 161 Aktiengesetz ist also ernst zu nehmen.—-Dr. Hans-Christoph Ihrig ist Partner von Allen & Overy in Frankfurt. Die Fragen stellte Sabine Wadewitz.