Christian Heller

Aufräumen im Dickicht der ESG-Standards

Die von internationalen Konzernen gestartete Organisation Value Balancing Alliance erarbeitet eine Methode, um die Wertbeiträge und Wertverzehr von Nachhaltigkeitskriterien in Unternehmen zu messen.

Aufräumen im Dickicht der ESG-Standards

Von Sabine Wadewitz, Frankfurt

Für die Finanzberichterstattung von Unternehmen haben sich mit den IFRS-Regeln international vergleichbare Standards herausgebildet. Für das Nachhaltigkeitsreporting sucht man diese noch vergeblich. Bislang gibt es global keine Verständigung auf einheitliche Normen für die Abbildung und Messung von ESG-Kriterien, obwohl die Auswirkungen von Umwelt-, Sozial- und Governance-Aspekten für Investoren und Unternehmen eine immer größere Bedeutung bekommen.

Die Value Balancing Alliance (VBA) will in der Standardisierung der Nachhaltigkeitsberichterstattung einen entscheidenden Beitrag leisten. Die Initiative ist im Sommer 2019 von einer Gruppe großer Unternehmen gegründet worden, darunter BASF, SAP, Bosch und Deutsche Bank. Der Kreis der Mitglieder ist seitdem auf über 20 gestiegen; vertreten sind neben deutschen Adressen Konzerne aus der Schweiz, Südkorea, Japan, Frankreich und Großbritannien. Die meisten Mitgliedsfirmen stellen Mitarbeiter ab, um die Arbeit der VBA zu unterstützen. Mit weiteren 50 Konzernen lotet die Organisation das Interesse an einem Einstieg aus.

Abbilden und bewerten

Die VBA will Standards entwickeln, mit denen Konzerne Wertbeiträge und Kosten von ökologischen und sozialen Veränderungen monetär messen können. „Primäres Ziel ist es, Unternehmen eine Methode zu liefern, mit der sie Nachhaltigkeitsaspekte finanziell abbilden und bewerten können“, erklärt VBA-Vorsitzender Christian Heller – ihn hat der Chemiekonzern BASF für dieses Projekt freigestellt. Eine standardisierte Messung soll Unternehmen in die Lage versetzen, positive und negative Wertbeiträge von ESG-Komponenten valide und vergleichbar zu erfassen und transparent zu machen, in welchem Ausmaß sie den Unternehmenswert beeinflussen. Diese Analyse ist in der Außendarstellung als Information für Stakeholder und Investoren gedacht, sie dient aber auch als Basis für Weichenstellungen im Unternehmen selbst.

Die Ziele sind ambitioniert und betreffen fundamentale Prozesse. „Wir sehen uns als Speerspitze einer Entwicklung, wie man Nachhaltigkeitskriterien direkt in Unternehmensentscheidungen integrieren kann und wie man Unternehmen holistischer steuert –  über die Gewinnmaximierung hinaus“, sagt Heller. Zentrale Frage ist, wie Unternehmen Entscheidungen treffen, wenn sie Nachhaltigkeitsaspekte mit einbeziehen. „Klimaziele haben mittlerweile den gleichen Stellenwert wie Finanzkennzahlen.“

In dem Szenario sei abzuwägen, ob Finanz- oder Umweltkennzahlen optimiert werden. „Für diese Entscheidung braucht es eine valide Datenlage, nur so kann das Unternehmen seinen Wertbeitrag optimieren. Was man nicht messen kann, kann man nicht managen“, sagt Heller. Als Beispiel verweist er auf CO2-Emissionen, die im Unternehmen zum Beispiel durch eine Besteuerung des Schadstoffausstoßes zunächst Kosten verursachen. Investiere das Unternehmen deshalb in neue Technologien und neue Produktportfolien, könne es seinen Wert zukünftig steigern. „Es hat sein Risikoprofil verbessert und sein Geschäftsmodell zukunftsfest gemacht.“

Bislang „Buchstabensuppe“

Es geht der VBA nicht darum, Rechnungslegungsstandards in Konkurrenz zu IFRS oder US-GAAP zu kreieren. Sie sieht es als ihre Aufgabe, Methoden zu entwickeln, wie Nachhaltigkeitsaspekte gemessen und bewertet werden können, um sie dann in die Rechnungslegung zu integrieren. „Was wir methodisch entwickeln und an Daten und Standards generieren, muss am Ende mit den Rechnungslegungsstandards nach IFRS konformgehen“, weiß Heller.

Nachdem sich bislang eine Vielzahl an ESG-Bewertungsverfahren herausgebildet hat, ist es zentral für den Erfolg der VBA, dass sie für ihre Methode internationale Akzeptanz bekommt, damit die gewünschte Harmonisierung gelingt. „Bislang besteht die Nachhaltigkeitsberichterstattung aus einer Buchstabensuppe“, erklärt Heller. Ziel müsse es sein, ein Level Playing Field zu einzurichten. Immerhin sei eine zunehmende Kooperation der verschiedenen Parteien zu beobachten. „Wir stehen mit unterschiedlichen Akteuren im Austausch und haben offizielle Mandate erhalten“, sagt Heller. So sei sein Team in engem Dialog mit der IFRS-Foundation und den beteiligten Akteuren wie der Value Reporting Foundation, die über das neue Schwestergremium des IFRS-Standardsetzers IASB, das International Sustainability Standards Board (ISSB), die Nachhaltigkeitsberichterstattung global standardisieren will. Eingeklinkt ist die VBA auch in Initiativen der G7-Staaten zur Standardisierung der Berichterstattung über Nachhaltigkeitsaspekte. Hier dreht es sich in einem zweiten Arbeitsstrang noch darum, welche politischen Schritte ergriffen werden können, um Investoren verstärkt in nachhaltige Anlagen zu lenken.

Auf EU-Ebene ist die VBA im Taxonomie-Rahmenwerk aktiv. Im ganzen Kontext der EU-Nachhaltigkeitsinitiativen seien der VBA unterschiedliche Mandate angetragen worden. In der EU-Plattform „Sustainable Finance“ habe die VBA die Verantwortung für das Thema Accounting & Reporting im Bereich der Taxonomie übernommen. Mit der Aufgabe sei die VBA direkte Schnittstelle zwischen Taxonomie-Regulierung und Nachhaltigkeitsberichterstattung in Form der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD), erklärt Heller.

Direkter Praxisbezug

Als weiteres wichtiges Mandat der VBA nennt er das „Transparent-Projekt“ der EU. „Die EU-Kommission hat uns beauftragt, Natural Capital Accounting Principles zu entwickeln, um Veränderungen im Ökosystem in der Berichterstattung von Unternehmen abzubilden. Das Projekt ist auch direkt in die CSRD aufgenommen worden.“

Dass die VBA in vielen Projekten gefragt ist, führt Heller auf den Praxisbezug mit direkter Schnittstelle zu Unternehmen zurück. „Wir verstehen uns als Praxislabor und wollen aus der Wirtschaft heraus Lösungen finden, um Nachhaltigkeit konsistent und standardisiert messbar zu machen, aber auch unsere Mitglieder befähigen, alles, was an Berichterstattungsstandards außerhalb der VBA entwickelt wird, bedienen zu können.“ In der Kooperation mit den Partnern hält er es für möglich, „das Dickicht an Standards zu lichten, die zentralen Aspekte herauszufiltern und zu klären, welche Standards sich direkt umsetzen lassen, weil die Daten in Unternehmen vorhanden sind, und welche neuen Daten zu generieren sind“. Die VBA gehe zudem regelmäßig in den Austausch mit Investoren, um zu erfahren, welche Daten dieser Kreis benötigt.

In der Methodik richtet sich die VBA am Konzept der sogenannten „doppelten Materialität“ aus, wie es die EU-Kommission in dem Thema vorgibt. Es wird auch als „Inside-out- und Outside-in-Perspektive“ bezeichnet. In der Inside-out-Betrachtung wird gemessen, wie sich ein Geschäftsmodell auf Umwelt und Gesellschaft auswirkt. In der „Outside-in-Betrachtung“ geht es darum, wie sich Nachhaltigkeitsaspekte auf das Unternehmen und seine finanzielle Performance auswirken. Dabei sind Effekte einbezogen, auf die das Unternehmen selbst keinen Einfluss hat. „Über diese beiden Perspektiven müssen europäische Unternehmen künftig berichten. Wir richten unsere Methoden entlang dieses Konzepts aus“, sagt Heller.

Alternative Bilanz

Nach derzeitigem Stand der Diskussion könnte sich das Reporting so verändern, dass der Lagebericht von Unternehmen künftig aus zwei Teilen besteht: Der eine umfasst die klassische Finanzberichterstattung. Der zweite Teil besteht aus einer Nachhaltigkeitsberichterstattung, mit Aussagen zum Wertbeitrag des Konzerns für die Gesellschaft und Auswirkungen von ESG-Kriterien auf die finanzielle Performance des Unternehmens. Im zweiten Teil dürfte es nach den Vorstellungen der VBA eine alternative Bilanz geben mit Kennzahlen für Human-, Sozial- und Umweltkapital.

Eine vollständige Integration von Finanzberichterstattung und ESG-Reporting hält Heller nicht für sinnvoll, weil mit den herkömmlichen Finanzkennzahlen viele rechtliche Aspekte verknüpft sind wie Ausschüttungssperre und Kapitalerhaltung. Deshalb befürworteten die Beteiligten, dass die Finanzberichterstattung in ihrer derzeitigen Form weiterbestehen soll. Ergänzt durch einen Nachhaltigkeitsteil, „um Investoren und Stakeholdern deutlich mehr Informationen standardisiert an die Hand zu geben, vor allem was die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens angeht“, resümiert Heller.

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