9-Euro-Ticket

Herber Rückschlag für die Verkehrs­wende

Das 9-Euro-Ticket sollte zum einen die Kassen der privaten Haushalte entlasten, zum anderen sollten die Bürger auf den Geschmack gebracht werden, wie einfach es doch ist, das Auto stehen zu lassen und stattdessen die klimafreundlichen öffentlichen Verkehrsmitteln zu nutzen. Bereits jetzt lässt ein vorläufiges Fazit ziehen: Das Experiment ist ein Desaster.

Herber Rückschlag für die Verkehrs­wende

Von Martin Dunzendorfer,

Frankfurt

Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Das dürfte die Intention von Bündnis 90/Die Grünen gewesen sein, als sie in den Verhandlungen der Regierungskoalition über Erleichterungen für die Bürger wegen der allgemein starken Preiserhöhungen das 9-Euro-Ticket durchsetzte. Zum einen sollte es temporär die Kassen der privaten Haushalte entlasten, zum anderen sollten die Bürger – vor allem wohl die Pendler – auf den Geschmack gebracht werden, wie einfach es doch ist, das Auto stehen zu lassen und stattdessen mit klimafreundlichen öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit zu fahren oder diese für die Fahrt zu Freizeitaktivitäten zu nutzen. Am Ende des ersten von insgesamt drei Monaten, in denen dieses Ticket Gültigkeit hat, lässt sich ein vorläufiges Fazit ziehen: Das Experiment ist ein Desaster.

16 Millionen Mal verkauft

Nicht etwa weil das 9-Euro-Ticket auf wenig Interesse gestoßen wäre, sondern weil genau das Gegenteil der Fall ist, die Bahninfrastruktur in Deutschland darauf aber nicht vorbereitet war. Es scheint – wenig überraschend – kaum jemanden zu geben, der sich diese Sonderfahrkarte nicht besorgt hat. Rund 16 Millionen dieser jeweils einen Monat gültigen Fahrscheine sollen bislang verkauft worden sein. Hinzu kommen die mindestens zehn Millionen Tickets der Zeitkartenabonnenten, die für Juni, Juli und August als 9-Euro-Ticket gelten. Aber in Anlehnung an einen Aphorismus des Bankiers Carl Fürstenberg: Die Ticketinhaber sind frech, weil sie für ihre 9 Euro auch die versprochene Gegenleistung erwarten, nämlich die Beförderung im Regionalverkehr von A nach B zu den in den Fahrplänen angegebenen Zeiten.

Dieser Illusion konnten sich im Grunde nur Personen hingeben, die sonst kaum mit Bahn oder Bus fahren. Denn schon in Vor-Corona-Zeiten, die aus heutiger Sicht „normal“ waren, genügten im Winter leichter Frost und ein paar Schneeflocken und im Sommer Temperaturen von knapp 30 Grad, um zu Zugausfällen oder erheblichen Verspätungen zu führen. Durchsagen wie „Grund für die Verspätung ist eine Signalstörung“, „… eine Weichenstörung“ oder „… eine Reparatur am Triebwagen“, kennen Bahnfahrer schon aus dieser Zeit nur allzu gut.

Ausufernde Verspätungen

Wesentlich häufiger als sonst ist auf den Bahnhöfen derzeit die Ansage „Grund ist die Verspätung aus einem vorausfahrenden Zug“ zu hören. Das ist eine Folge des 9-Euro-Tickets bzw. dessen Nutzung. Es ist offensichtlich, dass weder die derzeit einsetzbare Zahl an Loks, Wagen (nur beim Gütertransport spricht man von Waggon) und Mitarbeitern noch die Fahrpläne auf eine so hohe Auslastung ausgerichtet sind, wie sie sich durch den Verkauf des Sonderfahrscheins ergibt.

Hauptgrund für die vielen Verspätungen ist, dass in den ohnehin schon relativ stark genutzten Zug- und Busverbindungen, etwa in Ballungsgebieten, zu Metropolen oder bekannten Sehenswürdigkeiten, die Zahl der Mitfahrer gefühlt um mindestens ein Drittel, wenn nicht gar den Faktor 2 angeschwollen ist. Je mehr Menschen aber ein- und aussteigen, desto mehr Zeit nimmt das in Anspruch. Durch die Haltepunkte auf der Fahrt vervielfacht sich dieser zusätzliche Zeitbedarf, der durch vorhandene Zeitpuffer nicht annähernd aufgefangen werden kann. Die Verspätung wächst von Station zu Station.

Ein besonders krasser Fall ereignete sich am Sonntagmorgen: Die Deutsche Bahn hatte die Bundespolizei zu Hilfe gerufen, da ein Zug nach Regensburg hoffnungslos überfüllt war. Es liegt nahe, dass die Überauslastung mit einer großen Zahl von Fahrgästen mit 9-Euro-Ticket zusammenhing. Als die Polizei den überfüllten Regionalzug räumen wollte, kam es zu tumultartigen Szenen. Zwei Reisende leisteten so aggressiv Widerstand, dass sie vorübergehend festgenommen wurden.

Da die Entscheidung für das 9-Euro-Ticket durch die Politik kurzfristig fiel, konnte die Bahn trotz des erwartbaren Andrangs an Reisenden andere, langfristige Planungen nicht mehr korrigieren: So hatte sie wie üblich viele Reparaturen an den Strecken bewusst in den Sommer gelegt, in Erwartung, dass dann die Zahl der Fahrgäste wegen der Ferien- bzw. Urlaubszeit insgesamt weniger stark als im Rest des Jahres ist. Vom Beschluss der Regierung, ein 9-Euro-Ticket anbieten zu lassen, wurde die Bahn, deren Alleineigentümer der Staat ist, völlig überrumpelt. Zu diesem Zeitpunkt waren die lange vorher auf den Weg gebrachten Pläne für Reparaturen und Erneuerungen von Weichen, Schienen oder Signalen zwischen Juni und August kaum mehr zu ändern. Diese Streckenarbeiten führen nun zu weiteren erheblichen Verzögerungen im Zugverkehr.

Wegen des 9-Euro-Tickets rechnet der Fahrgastverband Pro Bahn mit Beginn der Sommerferien – die gerade in den ersten Bundesländern begonnen haben – mit vollen Zügen im Regionalverkehr. Der Verband rät daher zum Umstieg auf ICE- und IC-Züge, in denen aber das günstige Ticket nicht gilt. Noch mehr nachrüsten können die Bahnbetreiber nicht, weil es weder die Fahrzeuge noch das Personal gibt, heißt es. Tatsächlich mutet die Zahl von 50 zusätzlichen Zügen, die DB Regio seit dem 1. Juni zusätzlich rollen lässt, wie ein Tropfen auf den heißen Stein an.

Anschluss verpasst

Wer als Fahrgast dann noch auf dem Weg zu seinem Ziel bzw. auf der Rückfahrt gezwungen ist, mehrmals umzusteigen, für den wird im besten Fall die Umsteigezeit knapp. Nicht selten wird der Anschluss verpasst. Wer aber als passionierter Autofahrer in diesen Tagen doch einmal die Bahn nutzt, dann aber ein oder mehrmals eine Stunde und länger bei hochsommerlichen Temperaturen auf einem Bahn- oder Busbahnhof im Nirgendwo festsitzt, den wird diese Erfahrung gewiss nicht dazu bringen, von September an dauerhaft auf den öffentlichen Personennahverkehr umzusteigen. Vom Widerwillen gegen überfüllte Züge und Busse ganz zu schweigen, in denen sich mancherorts kaum die Hälfte der Mitfahrenden noch an das vorschriftsmäßige Tragen der Mund-Nase-Bedeckung hält oder viele Mitreisende andere grundlegende Formen von Höflichkeit und Rücksichtnahme vermissen lassen.

Kosten und Folgeaufträge

Für die von den Regierungsfraktionen – mit unterschiedlicher Intensität – angestrebte Verkehrswende ist das also ein herber Rückschlag. Um Autofahrer zum Umdenken zu bringen, hätte der erste Schuss sitzen sollen. Das ist gründlich danebengegangen. Es wird einige Zeit dauern und womöglich noch einmal ein für die öffentlichen Kassen so kostspieliges Unterfangen wie das 9-Euro-Ticket nötig sein, um eine so große Gruppe von Menschen zum Testen des öffentlichen Regionalverkehrs zu bringen. In diesem Turnus erstattet der Bund den Ländern für den Einnahmeausfall durch das 9-Euro-Ticket insgesamt 2,5 Mrd. Euro.

Welche Auswirkungen das 9-Euro-Ticket auf die künftige Verkehrspolitik bzw. auf die Investitionen der öffentlichen Hand haben wird, lässt sich schwer sagen. Wahrscheinlich wird der Fehlschlag so interpretiert, dass nach den offen zu Tage getretenen Defiziten nun erst recht Geld in den öffentlichen Nahverkehr ge­steckt werden muss. Das heißt, es winken Aufträge u.a. für Siemens Mobility, Alstom, Bombardier (Loks, Wagen), Vossloh (Schienen, Weichen) sowie Knorr-Bremse (Signale).

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