Finanzierung

Chancen für Investition in Wachstums­werte

Das Jahr 2021 wird in der IPO-Statistik der Deutschen Börse positiv auffallen. Geht es nach der Zahl der Börsengänge, dürfte es das stärkste IPO-Jahr seit 2000 werden. Damit ist die bekannte „German Skepsis“ gegenüber allem Neuen aber noch nicht überwunden.

Chancen für Investition in Wachstums­werte

In Deutschland ist viel Zeit vergangen, bevor sich junge, stark wachsende Unternehmen wieder am Kapitalmarkt etablieren konnten. Das Jahr 2021 wird in der IPO-Statistik der Deutschen Börse positiv auffallen. Geht es nach der Zahl der Börsengänge, dürfte es das stärkste IPO-Jahr seit 2000 werden. Damit ist die bekannte „German Skepsis“ gegenüber allem Neuen aber noch nicht überwunden.

Der Bilanz-Skandal um Wirecard, das unrühmliche Ende von Rocket Internet als börsennotiertes Unternehmen oder jüngst eine Prognosekorrektur bei Teamviewer befeuern die Kritik der ewigen Zweifler. Die Kursimplosion am Neuen Markt vor 20 Jahren hat das Vertrauen nicht nur bei Privatanlegern erschüttert.

Seit etwa fünf bis sechs Jahren findet hierzulande jedoch ein Wandel zum Positiven statt. Die deutsche Börse verzeichnet einen Zuwachs bei Listings von Unternehmen, die die Digitalisierung, die Energiewende oder andere zukunftsgerichtete Geschäftsmodelle vorantreiben. Zu ihnen gehören Hellofresh, Zalando oder auch Delivery Hero, die allesamt inzwischen im DAX 40 vertreten sind. Hellofresh, der Marktführer für den Versand von Kochboxen, hat schon vor zehn Jahren erkannt, dass Berufstätige für das Kochen wenig Zeit aufwenden können, aber nicht darauf verzichten wollen. Heute erzielt das Unternehmen 6 Mrd. Euro Umsatz, davon die Hälfte in den USA, und beschäftigt weltweit über 6000 Mitarbeiter; ein Paradebeispiel für ein zeitgemäßes Geschäftsmodell und zugegebenermaßen eine deutsche Ausnahmeerscheinung. Es dauert normalerweise länger, bis ein deutsches Unternehmen auch international Fuß fasst.

In Rekordzeit positioniert

Damit positioniert sich das Unternehmen in Rekordzeit für einen langfristigen Erfolg, mit dem sich viele etablierte deutsche Großkonzerne schwertun. Auf der Liste der weltweit 100 größten Unternehmen nach Börsenwert sind gerade einmal drei Dax-Konzerne vertreten. Siemens, SAP und Volkswagen. Hellofresh gehört zwar noch lange nicht zu den größten Börsen-Champions, hat aber das Zeug dazu. Das Unternehmen, dessen CEO auch zu den Gründern gehört, hat früh auf eine tiefgreifende Veränderung der modernen Arbeitswelt reagiert und die richtigen Weichen für internationales Wachstum gestellt.

Negativbeispiel

Ein Negativbeispiel liefert der deutsche Kapitalmarkt nahezu zur selben Zeit ab. Fragwürdige Investitionen in die Marketingstrategie und die Senkung der Gewinnprognose lösten einen massiven Kurssturz bei Teamviewer aus. Angesichts der hohen Bewertung im IPO war die Erwartungshaltung und damit die Fallhöhe für den Aktienkurs entsprechend hoch aufgespannt. Deshalb das Geschäftsmodell als solches oder Investitionen in Wachstumsunternehmen generell infrage zu stellen, wäre aber zu kurz gefasst. Gewinnenttäuschungen in einem einzelnen Geschäftsjahr sagen wenig über den Langfristerfolg eines Ge­schäftsmodells und schon gar nicht über die Ertragskraft deutscher Midcaps aus.

Es ist im Grunde paradox, dass hierzulande der Mittelstand als Wachstumsmotor der größten Volkswirtschaft Europas immer noch viel Skepsis am Kapitalmarkt er­fährt. Ohnehin hat Deutschland europaweit eine vergleichsweise schlecht entwickelte Börse. Der Ge­samtwert aller in Deutschland ge­listeten Unternehmen kommt kaum über die Hälfte des deutschen Bruttosozialprodukts hi­naus. Dazu passt, dass deutsche Start-ups nach der ersten Anschubfinanzierung im internationalen Wettbewerb schnell den Anschluss verlieren. Im Vergleich mit US-Pendants unterscheidet sich für deutsche Jungunternehmen die Seed-Finanzierung kaum. Später bekommen amerikanische Gründer jedoch ein Vielfaches an Kapital, um ihre Pläne zu verwirklichen. Das hat handfeste Konsequenzen. Börsennotierte Unternehmen sind eine Job-Maschine. Fast alle dieser Arbeitsplätze entstehen je­doch erst nach dem Börsengang. Es wäre fatal zu glauben, dass ein entwickelter Kapitalmarkt für den langfristigen Erhalt und die Schaffung von neuem Wohlstand un­wichtig sei. Erst recht zu einer Zeit, in der Digitalisierung und Energiewende zusätzliche Investitionen er­fordern. Pensionskassen, Lebensversicherer, Fondsgesellschaften oder Stiftungen wären eine kapitalstarke Anlegergruppe, nutzen aber regulatorische Spielräume für die Finanzierung junger Unternehmen vielfach nicht vollständig aus. Stattdessen kompensieren Kapitalgeber aus dem Ausland die deutschen Defizite.

Sogenannte Leuchttürme, die es auch bis in den Dax schaffen, strahlen ihr Licht über die Landesgrenze ab und schaffen zusätzlich Aufmerksamkeit für kleinere Unternehmen mit zukunftstauglichen Geschäftsmodellen. Nach wie vor bekommen deutsche Firmen aus der zweiten Reihe und dritten Reihe weltweit An­erkennung.

Kapital reicht aus

Und auch der deutsche Mittelstand hat von seinen Qualitäten, hohe Ertragskraft bei günstigen Bewertungen, nichts verloren. Es wäre langfristig aus deutscher Perspektive klüger, diese Wohlstandsquelle selbst zu nutzen, als ausländische Geldgeber die Rendite abschöpfen zu lassen. Ausreichend Kapital ist in Deutschland vorhanden. Die nötige Risikotragfähigkeit auch. Sogar die Politik strebt jetzt eine stärkere Verbindung von Kapitalmarkt und Realwirtschaft an. Der Tisch ist also angerichtet. Nur zugreifen müssen die Anleger schon selbst.

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