Martin Beyer und Ulrich Coenen, Atruvia

Kreditgenossen stehen hohe IT-Kosten ins Haus

Atruvia, der zentrale IT-Dienstleister der Volks- und Raiffeisenbanken, benötigt voraussichtlich milliardenschwere Investitionen für die Digitalisierung der Gruppe.

Kreditgenossen stehen hohe IT-Kosten ins Haus

Von Silke Stoltenberg, Frankfurt

„Die 2018 beschlossene Digitalisierungsumlage in der genossenschaftlichen Finanzgruppe für die Modernisierung des Bankings läuft aus, die Herausforderungen der Digitalisierung des Banking sind aber weiterhin herausfordernd.“ Damit stellt Martin Beyer, Vorstandssprecher des genossenschaftlichen IT-Dienstleisters Atruvia, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung klar, dass der Transformationsprozess der Gruppe noch lange nicht am Ende ist und hohe neue Investitionen notwendig sind. Laut Informationen der Börsen-Zeitung gibt es Szenarioberechnungen, wonach die genossenschaftliche Gruppe in den nächsten fünf Jahren 450 Mill. bis 1 Mrd. Euro jährlich aufbringen müsste, um auf Augenhöhe mit dem europäischen Wettbewerb zu kommen.

Die Zahlen der Wettbewerber hatte Beyer vergangene Woche zusammen mit dem zweiten Vorstandssprecher Ulrich Coenen in einer rund 40-seitigen Präsentation beim Verbandsrat des BVR vorgelegt, der über die Strategie der Gruppe entscheidet. Demnach haben europäische Banken für den Zeitraum 2022 bis 2026 zwischen 2,5 und 6 % ihrer Zins- und Provisionserträge als Investitionen in die Digitalisierung eingeplant. Umgerechnet auf die Kreditgenossen wären dies eben die besagten 450 Mill. bis 1 Mrd. Euro jährlich. Dabei läuft die aktuelle Digitalisierungsumlage bei den Volks- und Raiffeisenbanken erst Ende Juni aus und hatte nur 500 Mill. Euro für den gesamten Zeitraum betragen.

Die Investitionsprogramme anderer Banken in Europa sind nach Darlegung Beyers lediglich eine Orientierungsgröße. Daraus eins zu eins den Investitionsbedarf für die Kreditgenossen abzuleiten, hält er für populistisch. „Die Notwendigkeit, in die Digitalisierung zu investieren, ist unstrittig, wir müssen in der Gruppe aber noch einen Konsens darüber erreichen, an welcher zeitlichen Erwartungshaltung wir uns messen lassen wollen – und davon hängt dann das jährliche Investitionsvolumen ab“, betont er.

Abstimmung Mitte Juni

Geplant ist nun, dass Atruvia für den Ständigen Projekt- und Strategieausschuss des BVR (SPSA) bis Ende März eine indikative Roadmap für das Investitionsvolumen bis 2025 mit Ausblick bis 2027 erarbeitet. Ohne neue hohe Investitionen drohe für die genossenschaftliche Finanzgruppe eine „Ab­risskante“ und der „Verlust von Know-how“, ist in der Präsentation von Atruvia für den BVR-Verbandsrat mit drastischen Worten beschrieben, was geschieht, wenn keine neuen Gelder beschlossen werden.

Einen Teil der neuen Investitionen will Atruvia selbst tragen, ein Teil wird wohl von der DZ Bank kommen, und der Rest könnte in Form höherer Beiträge auf die Genossenschaftsbanken zukommen. Dieses Modell steht zumindest im Raum. Wobei die Primärbanken ohnehin schon ab 1. April durchschnittlich rund 5 % höhere Gebühren für Atruvia zu entrichten haben. Dies hatte der IT-Dienstleister im Dezember als inflationsbedingte Preisanpassung für den laufenden Betrieb angekündigt.

Ausfälle und Störungen

Womit die Einsparungen von 125 Mill. Euro, die Atruvia in den Vorjahren im Zuge des schmerzhaften Umbaus durch ein neues Preismodell ermöglicht hatte, wieder teils zurückgenommen werden. Nach der Fusion der früher zwei Rechenzentralen Fiducia und GAD war der fusionierte IT-Konzern in arge Bedrängnis geraten: Ausfälle und Störungen im Kernbankverfahren und eine heftige Mängelrüge der BaFin nach einer Sonderprüfung Ende 2018 brachten die genossenschaftliche Rechenzentrale und den Verbund zum Beben.

Der Umbauprozess kostete rund 900 Stellen. Die Mängelbehebung nach der BaFin-Rüge wurde Ende 2021 beendet und das zuvor monolithische einheitliche Banksystem Agree 21 zu einer offenen Plattform umgewandelt, die die Anbindung externer IT-/Fintech-/Cloud-Angebote ermöglicht. Die internen Prozesse und Strukturen wurden modernisiert, der Konzern in Atruvia umbenannt – und auch die Anlaufschwierigkeiten der neuen Banking-App im vergangenen Jahr sind beseitigt.

„Wir haben Anfang letzten Jahres viel Vertrauen verspielt, aber mittlerweile haben wir deutlich an Reputation zurückgewonnen und konnten so bei der digitalen Transformation gegenüber den Sparkassen aufschließen. Die strategische Ausrichtung mit Blick auf die Rolle des Digitalisierungspartners ist etabliert, somit sind die Weichen für die Zukunft gestellt“, zeigt sich Beyer selbstbewusst. Coenen räumt indes ein, dass ihnen die Direktbanken weiterhin deutlich voraus sind. Der direkte Vergleich hinkt allerdings etwas, setzten doch die Genossenschaftsbanken weiterhin stark auch auf ihre Filialen statt nur auf Online-/Mobile Banking in einem Omnikanal-Ansatz, bei dem der Kunden entscheiden kann, wie er von Fall zu Fall mit der Bank in Kontakt treten will.

Diese Wahlfreiheit wiederum hat zur Folge, dass die Zahlen im digitalen Banking bei den Volks- und Raiffeisenbank bei 45 % liegen, während die Neobanken und Direktbanken hier Größenordnungen jenseits von 70 % vorweisen. „Die Banken müssen weiter intensiv daran arbeiten, dass die Kunden die digitalen Kanäle noch stärker nutzen“, fordert daher Beyer. In diesen Kontext passt auch der strategische Schwerpunkt der Atruvia für das laufende Jahr: die Rolle des Bankmitarbeiters im Omnikanal.

Im Mittelpunkt steht dabei die gruppenweit einheitliche Banking-App. Lediglich die Apobank, die GLS Bank und natürlich die sieben bei Sopra Steria verbliebenen Sparda-Banken sind hier außen vor. „Die App ist modular aufgebaut ist, so dass jedes Haus für sich bestimmte Anpassungen vornehmen kann, was einen individuellen Ansatz ermöglicht“, sagt Coenen. Bei der Einführung indes hatte es Störungen beim Kontozugang, bei der Performance und der allgemeinen Verfügbarkeit gegeben.

Große Chancen erkennt Atruvia für sich beziehungsweise für die Primärbanken in der Digitalisierung des Firmenkundengeschäfts. Zumal im Privatkundengeschäft die Fintechs und Direktbanken vermutlich uneinholbar die Nase vorn haben. Hierfür hat Atruvia zusammen mit der BMS Consulting bereits vor zwei Jahren ein Joint Venture BMS Corporate Solutions gegründet. „Wir haben folgendes Zielbild für die Digitalisierung des Firmenkundengeschäfts: Bei den Gewerbetreibenden und kleineren Firmenkunden macht eine Annäherung an die Omnikanal-Strategie wie im Privatkundengeschäft Sinn, bei den größeren Firmenkunden geht es um die Vernetzung zwischen der Bank und den sonstigen internen Prozessen des Kunden durch intelligente Schnittstellen sowie eine zielgerichtetere Beratung mit Unterstützung von Smart Data“, umreißt Coenen die Ideen.

Je nachdem, was hiervon Anklang findet bei den Primärbanken, fließen solche Vorhaben in die neue Investitionsplanung für die Atruvia ein. Ebenso wird die Höhe der neuen Rechnung für die genossenschaftliche Finanzgruppe dadurch be­stimmt, wie stark die Automatisierung den zunehmenden Fachkräftemangel bei den Banken kompensieren soll beziehungsweise muss.

Zielgerichtete Ansprache

Die Nutzung der neuen digitalen Möglichkeiten für eine zielgerichtetere Kundenansprache in Vertrieb oder Marketing als Unterstützung für die Mitgliedsinstitute hat unlängst bei der Atruvia zur Gründung einer neuen, noch namenlosen Smart-Data-Tochter geführt. Daran hält die Rechenzentrale 51 %, die andere Hälfte die Unternehmen der DZ-Bank-Gruppe. Ziel ist, eine Software zu entwickeln, mit der zielgerichtete Marketingkampagnen aufgesetzt oder im Beratungsgeschäft Impulse gegeben werden können. Voraussetzung ist allerdings, dass die Kunden einer solch analytischen Datennutzung, zum Beispiel mit Blick auf den eigenen Zahlungsverkehr, zustimmen. Perspektivisch sollen sich an dieser Tochter auch die Volks- und Raiffeisenbanken beteiligen können. Ob sie hier eifriger sind als bei der ebenfalls neuen BVR-Digitaltochter Amberra, bleibt abzuwarten (vgl. BZ vom 25.11.2022).

Im Brot-und-Butter-Geschäft wiederum ist bei Atruvia im laufenden Jahr mit einer unverändert hohen Belastung zu rechnen, nämlich angesichts der Zahl der geplanten Fusionen. 40 bis 45 Fusionen sind für die technische Umsetzung einer Verschmelzung angemeldet. Im vergangenen Jahr waren es 40, ähnlich wie 2021 mit 42. Bei den Genossenschaftsbanken geht seit Jahren wegen zunehmender Digitalisierung und Regulierung sowie des jahrelangen Niedrigzinses der Trend zu größeren Einheiten. Waren es zur Jahrestausendwende noch fast 1 800 Primärbanken, ist die Zahl per Ende 2021 auf 770 zurückgegangen.