Jan Bottermann und Frank Wohlgemuth

„Die Finanz­märkte sind gut abgeschirmt“

Jan Bottermann, Chefvolkswirt, und Frank Wohlgemuth, Leiter Research der National-Bank, sind überzeugt, dass die Aktienmärkte im neuen Jahr weiteres Aufwärtspotenzial haben.

„Die Finanz­märkte sind gut abgeschirmt“

Christopher Kalbhenn.

Herr Wohlgemuth, allen Hoffnungen zum Trotz hat die Corona-Pandemie die Welt weiterhin im Griff. Müssen wir Ihrer Einschätzung nach noch lange auf die Überwindung der Pandemie warten?

Zunächst ist zu fragen, was bedeutet überhaupt „Überwindung der Pandemie“? Ich denke, es ist realistisch anzunehmen, dass die Corona-Pandemie im Laufe des Jahres 2022 weiter ihren Schrecken – insbesondere dank optimierter Impfstoffe und neu zugelassener Medikamente – verlieren wird. Trotzdem werden die Belastungen durch die Pandemie signifikant bleiben. Vieles, wenn nicht alles wird vom weiteren Impffortschritt – gerade auch im globalen Kontext – abhängen. Dies bedeutet, dass eine vollständige Überwindung der Pandemie nicht realistisch ist. Die Menschheit wird sich – ähnlich dem Umgang mit der jährlichen Grippe – in einem Leben mit dem Coronavirus einrichten müssen. Dies wird trotz vielfältiger Hürden aber immer besser gelingen.

Herr Bottermann, die Weltwirtschaft hat sich 2021 V-förmig erholt. Was erwarten Sie für das neue Jahr?

Der weitere Ausblick wird naturgemäß auch weiterhin maßgeblich vom Pandemieverlauf bestimmt. Wir gehen aber davon aus, dass es zumindest gelingen wird, die ökonomischen Kollateralschäden der Pandemie immer weiter einzugrenzen. In diesem Szenario kann die Weltwirtschaft grosso modo an ihren Vorkrisenexpansionspfad anknüpfen: Im Kern profitieren vor allem die angelsächsischen Industrienationen von einer relativ geringen privaten Verschuldung, die der Typik des Wachstumsverlaufs in der Post-Lehman-Zeit geschuldet ist. Die zweite Säule der wirtschaftlichen Normalisierung bleibt das weiterhin hohe Wachstum der fernöstlichen Schwellen- und Entwicklungsländer, gepaart mit dem wirtschaftspolitischen Geschick der Chinesen.

Die geopolitischen Risiken sind durch die Pandemie in den Hintergrund gerückt, obwohl sie sich eher vermehrt haben. Können Sie zum Risiko für die Finanzmärkte werden?

Wohlgemuth: Das ist sicherlich möglich, man denke gerade an die Problematik an der ukrainischen Grenze, den latenten Konflikt um Taiwan oder auch die zunehmende Polarisierung in den westlichen Gesellschaften. Trotzdem: Die Finanzmärkte sind durch die fortwährende Alimentierung der Notenbanken mit billigem Geld grundsätzlich gut abgeschirmt, so dass geopolitische Risiken von den Finanzmarktakteuren im Jahresverlauf voraussichtlich eher wenig Beachtung finden sollten.

Eine Folge der Coronaverwerfungen ist ein starker Anstieg der Inflation. Was erwarten Sie für 2022? Droht ein chronisches Inflationsproblem beziehungsweise Stagflation?

Bottermann: Der Preisdruck wird im Jahresverlauf 2022 allein aufgrund der Basiseffekte hoch bleiben. Unter der Prämisse, dass sich das Wirtschaftsleben allmählich normalisiert, ist eine Rückkehr zur Preisstabilität meines Erachtens unverändert das wahrscheinlichste Szenario. Unsere Simulationen stützen hier die Sichtweise, dass die globalen Preisschocks wahrscheinlich temporärer Natur bleiben: Es gibt keine Größen, die einen nachhaltigen Regimewechsel erklären könnten. Der Abwärtstrend des unterliegenden Preistrends trotzte der prononcierten monetären Expansion so­wohl der Fed als auch der EZB und der Bank of Japan seit der Lehman-Krise im Jahre 2008. Darüber hinaus sind die vielfach ins Feld geführten demografischen Veränderungen viel zu träge, als dass sie einen so abrupten Trendwechsel erklären könnten. Schließlich bleibt die Globalisierung intakt, so dass die Preisdisziplin perspektivisch hoch bleiben dürfte.

Die großen Notenbanken, vor allem die Fed und die Bank of England, haben die geldpolitische Normalisierung eingeleitet. Könnte die Inflation sie zwingen, noch stärker auf die Bremse zu treten, und was würde das für die Weltwirtschaft bedeuten?

Bottermann: Natürlich kann man unter bestimmten Annahmen bezüglich des Pandemieverlaufs herleiten, dass die Inflation so nachhaltig steigt, dass sie die Notenbanken zur Vollbremsung zwingt. Aus unserer Sicht sind gerade die logistischen Probleme des globalen Handels eindrucksvoller Beleg dafür, dass die These vom „Ende der Globalisierung“ schlichtweg nicht zu­trifft. Insbesondere sofern man dem immer höheren Gewicht immaterieller Dienstleistungen angemessen Rechnung trägt, hat hier die internationale Arbeitsteilung in der Summe sogar signifikant weiter zugenommen. Dies gilt vor allem für die „disruptiven“ IT-Technologien, die die globale Preistransparenz maßgeblich prägen und die – was aktuell kaum zu überschätzen ist – die Inflation in den vergangenen Jahrzehnten in Schach gehalten haben. Insofern erwarten wir, dass eine intakte Globalisierung den Notenbanken den Spielraum lässt, die Folgen der Pandemie abzumildern und die Konjunktur so lange zu stützen, bis die Krise überwunden ist.

Als wie persistent beurteilen Sie die Lieferkettenproblematik?

Wohlgemuth: Trotz aller momentanen Friktionen sieht es für den internationalen Handel grundsätzlich weiter aussichtsreich aus. Die maßgebliche Triebfeder dafür ist die im Zuge der weiteren weltwirtschaftlichen Erholung zu erwartende Rücknahme von Produktionseinschränkungen sowie eine Lösung der handelshemmenden Transportprobleme. Bei diesen beiden maßgeblichen Determinanten der Lieferkettenproblematik ist mit einer signifikanten Verbesserung im Laufe dieses Jahres zu rechnen. Das Problem der Lieferengpässe sehen wir folglich als ein zeitliches, jedoch nicht als ein dauerhaftes Problem an. Bei den Unternehmen sind Strukturverschiebungen im Hinblick auf eine stärkere Berücksichtigung von Risikoaspekten notwendig. Der Schwerpunkt in der Vergangenheit lag zu einseitig auf der Wirtschaftlichkeit und zu wenig auf der Widerstandsfähigkeit von Lieferketten. Dies sollte zukünftig korrigiert werden.

Wie lange wird die Europäische Zentralbank noch stillhalten, was die Leitzinsen betrifft?

Bottermann: Aus unserer Sicht wird die EZB ihren geldpolitischen Kurs nur in einem Randszenario ändern. Zum einen sprechen die politökonomischen Rahmenbedingungen vor allem mit Blick auf die „fiskalische Dominanz“ für eine Fortsetzung der extrem expansiven Geldpolitik. Zum anderen wurde der quasi seit Beginn der Währungsunion dominierende Abwärtstrend der Kernpreisraten erst durch die Coronaverwerfungen gebrochen. Die EZB wird daher regionale und temporäre Preisschocks in ihrer Argumentation ausblenden und – aus ihrer Sicht zu Recht – den gesamteuropäischen Inflationstrend ins Feld führen und sich dem internationalen Zinstrend eher entgegenstemmen – eine Zinswende, die den Namen verdient, ist nicht in Sicht.

Welche Folgen haben die Unterschiede der Geldpolitik in den USA und im Euroraum für den Euro?

Bottermann: Die große Frage für den Devisenmarkt ist letztlich, inwieweit die EZB in den kommenden Jahren – ökonomisch und politisch – überhaupt noch zu einer Zinswende fähig sein wird: Aus unserer Sicht sind die Länder der Eurozone im Verlauf der Coronakrise im internationalen Vergleich vermutlich noch weiter zurückgefallen, da sie bei wirtschaftlichen Schocks traditionell weniger flexibel sind. Vor dem Hintergrund der obigen Erwägungen gehen wir daher grundsätzlich davon aus, dass der seit dem Jahre 2008 vorherrschende strukturelle Trend zur Abwertung des Euro gegenüber dem US-Dollar grundsätzlich Bestand haben wird, weil die EZB im Kern systematisch expansiver sein wird als die US-Notenbank. Mittelfristig sehen wir die US-Devise­ bei Kursen um 1,05 – auf Jahressicht sehen wir Kurse um 1,10  Euro.

Haben die Aktienmärkte nach dem starken Vorjahr noch Potenzial?

Wohlgemuth: Davon sind wir überzeugt. Die relative Attraktivität der Aktienanlage – gerade in realer Betrachtung – im Vergleich zu den nominalbasierten Anlageklassen sollte sich auch im neuen Jahr als die wesentliche Determinante für die Fortführung des Aktienmarktaufschwungs herausstellen. Die oftmals gestellte Frage „Wo soll ich denn mein Geld anlegen?“ wird weiterhin dazu führen, dass eine Fülle von Liquidität auf der Suche nach Werterhalt und/oder Renditechancen in die globalen Aktienmärkte fließen wird. Dies wird so lange passieren, wie die Alternativanlagen zu den Aktienmärkten keine wertsichernden Optionen darstellen.

Welche Branchen beziehungsweise Segmente favorisieren Sie?

Wohlgemuth: Wir favorisieren exportorientierte Branchen, welche vom weiteren Aufschwung der globalen Wirtschaft profitieren sollten. Zudem legen wir den Fokus auf sogenannte Zukunftsthemen wie künstliche Intelligenz, erneuerbare Energien, Nachhaltigkeit. Das sind die Themen, die global die inhaltlichen Schwerpunkte in den nächsten Jahrzehnten setzen werden.

Anleihen haben 2021 negative Erträge erzielt. Muss für das Jahr 2022 Ähnliches befürchtet werden? Wie sollen sich Anleger an den Anleihemärkten positionieren?

Bottermann: Ja, zumindest werden die Returns nahe null sein – zu verdienen ist hier also nichts. Aus unserer Sicht sind und bleiben die außereuropäischen Zinsstrukturkurven deutlich attraktiver, zumal hier auf die mittlere Frist zusätzliche Währungsgewinne winken. Letzteres gilt auf die längere Frist vor allem für das gesamte asiatisch-pazifische Währungsgefüge, so dass das deutlich höhere Zinsniveau in vielen Emerging Markets Asiens im Rentenbereich unbedingt genutzt werden sollte. Im Kern werden sich die Risikoaufschläge für die Schwellenländer des asiatisch-pazifischen Raumes im Rahmen der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung weiter vermindern, da sich die Renditen denen der Industrienationen angleichen werden, was kurstreibend wirkt: Selbst im letzten Jahr war ein Total Return von rund 6% für globale Benchmarks der Emerging Markets zu erwirtschaften. Für die Gruppe der Industrienationen sollte die Duration in der Regel im kürzeren Laufzeitenbereich liegen, da der internationale Zinstrend weiter aufwärts gerichtet bleiben wird.

Das Interview führte

Wirtschaftswachstum der G7-Staaten
Jahresveränderungsrate des BIP in Prozent
2018201920202021e2022e
Deutschland1,11,1− 4,62,94,3
Frankreich1,81,8− 8,06,33,9
Italien0,90,3− 8,95,84,2
Japan0,60,0− 4,62,43,2
Kanada2,41,9− 5,35,74,9
UK3,53,2− 4,03,53,6
USA2,92,3− 3,45,74,2
Quelle: Bloomberg, National-BankBörsen-Zeitung
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