Otmar Issing

Notenbanken – allmächtig oder unabhängig?

„Je unabhängiger die Notenbank, desto niedriger die Inflation“ schreibt Otmar Issing, Präsident des Center for Financial Studies und ehemaliger Chefvolkswirt der Bundesbank, in einem Gastbeitrag für die Börsenzeitung.

Notenbanken – allmächtig oder unabhängig?

Gegenwärtig verfügen die meisten wichtigen Notenbanken der Welt über den Status der Unabhängigkeit gegenüber der Politik. Historisch gesehen ist dies jedoch alles andere als der Normalfall. Relevant ist die Fragestellung ohnehin nur für die heutigen Papierwährungen in demokratischen Staaten.

Es gibt wichtige Argumente, die gegen die Unabhängigkeit der Notenbank sprechen. Das gravierendste ist politischer Natur. Widerspricht es nicht fundamentalen Grundsätzen der Demokratie, er­nannten, nicht demokratisch ge­wählten Technokraten die Verantwortung für eine so wichtige Aufgabe wie die Festsetzung des zentralen Zinses in einer Volkswirtschaft zu übertragen? Oder anders formuliert: Mit ihrer Geldpolitik bestimmt die Notenbank ganz wesentlich das Wirtschaftsgeschehen eines Landes. Ist es mit dem Verständnis von Demokratie vereinbar, wenn die dafür Verantwortlichen in Unabhängigkeit vom politischen Prozess entscheiden können? Um es vorwegzunehmen, die allgemeine Auffassung geht dahin: Durch einen Akt der Rechtssetzung ist die Un­abhängigkeit der Notenbank demokratisch legitimiert. Ein solcher Beschluss ist in einer Demokratie offen für eine Revision.

Die Erkenntnis, im Falle Großbritanniens allerdings relativ spät, dass die Politik mit der Aufgabe überfordert ist, eine sachgerechte, der Geldwertstabilität verpflichtete Geldpolitik zu gewährleisten, hat der damalige britische Schatzkanzler Gordon Brown im Mai 1997 überzeugend begründet: „The previous arrangements for monetary policy were too short-termist, encouraging short but unstable booms and higher inflation, followed inevitably by recession. This is why we promised in our election manifesto to (…) reform the Bank of England to ensure that decisionmaking on monetary policy is more effective, open, accountable and free from short-term political manipulation.“

Nach diesem Eingeständnis war es nur folgerichtig, die Notenbank in die Unabhängigkeit zu entlassen. Mit einer solchen Entscheidung entmachten sich Regierung und Parlament gewissermaßen selbst.

Weithin in Vergessenheit geraten ist, dass sich die große Mehrheit der Ökonomen lange Zeit gegen die Unabhängigkeit der Notenbanken ausgesprochen hat. Erstaunlicherweise teilten diese Ansicht Ökonomen, die ansonsten kontroverse Ansichten vertreten. Liberale wie Milton Friedman und Karl Brunner, aber auch Walter Eucken wollten die Geldpolitik nicht der Willkür möglicherweise auch noch inkompetenter Notenbanker aussetzen. Für andere, an vorderster Stelle James Tobin, sollte im Interesse einer konsistenten und effizienten Makrosteuerung die Notenbank in die Regierung inte­griert werden.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wie kam es dazu, dass um das Jahr 1990 die meisten größeren Länder ihren Notenbanken den Status der Unabhängigkeit verliehen haben? Zwei Entwicklungen führten zu diesem Umdenken.

Der Regimewechsel

Verantwortlich ist einmal die sog. Große Inflation der 1970er Jahre, in der die Inflationsrate in den USA zweistellige Werte erreichte. Im Anschluss an diese Episode beschäftigte sich die Wissenschaft zunächst mit der Frage, welche Gründe hinter diesem Ausbruch der Inflation stehen. Neben Fehlern der Geldpolitik wie der Überschätzung der Output-Lücke richtete sich das Interesse vor allem auf institutionelle Aspekte. Mit einiger zeitlicher Verzögerung er­schienen schließlich zahlreiche empirische Studien, die übereinstimmend zu folgendem Ergebnis führten: Das Ausmaß der Inflation ist negativ mit dem Grad der Unabhängigkeit der No­ten­bank korreliert. Je unabhängiger die Notenbank, desto niedriger die In­flation – und um­gekehrt. Dieses Re­sultat wird immer wieder durch neue wissenschaftliche Arbeiten bestätigt.

Ein zweiter Faktor spielte vor allem in Europa eine wichtige Rolle. Die Deutsche Bundesbank als einzige wirklich unabhängige europäische Notenbank und ihre Währung, die D-Mark als neben dem Schweizer Franken stabilste Währung in der Welt, bestätigten die erwähnte globale Erkenntnis. Darüber hinaus war sich die Regierung Kohl bewusst: Nur eine dem Modell der Bundesbank entsprechende un­abhängige künftige Europäische Zentralbank wäre der deutschen Öffentlichkeit zu vermitteln. Eine europäische Währungsunion ohne Deutschland lag außerhalb jeder Vorstellung. So stimmten schließlich alle Länder im Vertrag von Maastricht dem Statut der künftigen Europäischen Zentralbank mit dem zentralen Element der Unabhängigkeit zu, obwohl ihre eigenen Notenbanken bis dahin nicht unabhängig waren. Die Zu­stimmung stieß allerdings teilweise, nicht zuletzt in Frankreich, auf erheblichen Vorbehalt.

Triumph und Gefährdung

Auf 1990 folgte die „Great Moderation“, viele Jahre niedriger und stabiler Inflation, zufriedenstellenden Wachstums und niedriger Arbeitslosigkeit. Der Geldpolitik wurde dabei ein wesentlicher Anteil an dieser positiven Entwicklung zu­gemessen. Die den Notenbanken verliehene Unabhängigkeit galt als Voraussetzung für den erfolgreichen geldpolitischen Kurs. Als schließlich nach dem Ausbruch der Finanzkrise 2007/08 das entschlossene Eingreifen der Notenbanken – zusammen mit dem Einsatz der Finanzpolitik – wesentlich dazu beitrug, einen Absturz der Weltwirtschaft in eine Depression im Ausmaß der 1930er Jahre zu verhindern, erreichte die Reputation der Notenbanken und damit auch deren Unabhängigkeit einen bis dahin unerreichten Höhepunkt. Die Erwartungen an die Möglichkeiten der Geldpolitik kannten kaum Grenzen. Den Notenbanken traute man zu, Stabilität des Geldwertes, angemessenes Wachstum und hohe Beschäftigung zu garantieren. Nach allen historischen Erfahrungen und theoretischen Erkenntnissen waren diese Erwartungen überzogen und verkörperten damit im Falle von unausweichlichen Enttäuschungen eine Gefahr für das Ansehen der Notenbanken, zumal deren führende Vertreter wenig unternahmen, um diese Überhöhung ihrer Macht zurückzuweisen.

Immer neue Aufgaben

Mangel an Bescheidenheit wie die schier unbegrenzten Erwartungen der Politik führten auch dazu, dass die Notenbanken mit immer neuen Aufgaben in der Bankenaufsicht, der makroökonomischen Überwachung und Regulierung betraut, man sollte besser sagen: überfrachtet wurden.

Die größte Herausforderung in diesem Zusammenhang für die Notenbanken liegt in ihrer Verantwortung für die Finanzstabilität. Die Finanzmarktkrise löste eine breite Diskussion darüber aus, wieweit die Notenbanken direkt für die Finanzstabilität verantwortlich sein sollten und wie sie am besten dieser Aufgabe gerecht werden können. Inzwischen besteht Einigkeit: Preisstabilität garantiert nicht zwangsläufig auch Finanzstabilität. Die Phase der „Great Moderation“ brachte den Beweis, dass sich große Risiken für die Finanzstabilität auch bei niedriger Inflation aufbauen können. Folgt man der Theorie von Minsky, könnte gerade ein stabiles Umfeld den Anreiz zu riskanten Anlagen fördern, damit die Fragilität des Finanzsystems und die Gefahr eines anschließenden Zusammenbruchs erhöhen.

Existiert also ein Trade-off zwischen Preisstabilität und Finanzstabilität? Zwar kann es durchaus Situationen geben, in denen es kurzfristig zu einem solchen Konflikt kommt und die Notenbank ihre wichtigste Aufgabe darin sieht, einen Zusammenbruch der Finanzmärkte zu verhindern. Das kann jedoch kein Ar­gument sein, das Ziel der Preisstabilität grundsätzlich in Frage zu stellen. Auf längere Sicht gehen Preisstabilität und Finanzstabilität Hand in Hand. Unabhängig von einer rechtlichen Verpflichtung können sich die Notenbanken der Verantwortung für die Finanzstabilität nicht entziehen. Ihre Reputation erleidet erheblichen Schaden, falls der Eindruck entsteht, sie hätten die Gefahr einer Finanzmarktkrise un­terschätzt und nicht alles in ihrer Macht Stehende getan, um einen Zusammenbruch der Märkte zu verhindern. Wäre es deshalb nicht angebracht, das Mandat der Notenbank um die Verantwortung für die Finanzstabilität zu erweitern?

Dagegen spricht vor allem, dass damit die Möglichkeit eines Konflikts mit der Preisstabilität schon im Mandat verankert wäre. Dies würde nicht nur den Vorrang der Geldwertstabilität relativieren, sondern auch den geldpolitischen Entscheidungsprozess erschweren und am Ende intransparent machen. Damit verbunden ist auch das Problem, über welche Instrumente die Notenbank verfügt, um das zusätzliche Ziel Finanzstabilität zu verfolgen.

Hier hat sich weitgehend die Auffassung durchgesetzt, dass für das Ziel der Finanzstabilität vorrangig die Mittel der makroprudenziellen Politik wie Anforderungen an das Eigenkapital der Banken oder Unterlegungen von Krediten etwa an den Immobiliensektor angewendet werden sollen. Die anfänglich hohen Erwartungen an die Möglichkeiten der makroprudenziellen Politik sind jedoch inzwischen einer starken Ernüchterung gewichen. Zudem sind die Erfahrungen mit diesem Instrument alles andere als ausgeprägt.

Diese Einschätzung führt zur Vorstellung, im Falle einer Bedrohung der Finanzstabilität sollten zunächst die Mittel der makroprudenziellen Politik eingesetzt werden. Zeichnet sich dann ab, dass dies nicht ausreicht, sollte die Geldpolitik eingreifen. In einer solchen Konstellation geriete die Notenbank in Gefahr, zum einen ihr vorrangiges Ziel der Preisstabilität aus dem Auge zu verlieren, vor allem aber mit restriktiven Maßnahmen erst recht einen Zusammenbruch der Märkte herbeizuführen. Der Reputationsschaden für die Notenbank wäre zwangsläufig immens.

Diese Art „Arbeitsteilung“ zwischen der auf Preisstabilität gerichteten Geldpolitik und Maßnahmen zur Bekämpfung einer Finanzmarktkrise ist eine unmittelbare Folge der unverändert dominierenden Strategie des Inflation Targeting. Diese Konzeption ignoriert weitgehend die Entwicklung der monetären Größen und der Kredite. Wie die Finanzmarktkrise 2007/08 gezeigt hat, verweigert die Geldpolitik damit ihren Beitrag zur Verhinderung einer Zu­nahme der Risiken auf den Finanzmärkten. Der Notenbank bleibt dann nur noch die Aufgabe, den Zusammenbruch der Märkte mit massiven Interventionen aufzuhalten. Ganz davon abgesehen, dass diese Rettung mit massiven volkswirtschaftlichen Verlusten einhergeht, besteht die Ge­fahr, dass damit der Aufbau neuer Ungleichgewichte auf den Märkten eingeleitet wird.

Die geldpolitische Strategie der EZB, in der auch nach deren Revision die Analyse der Entwicklung der monetären Größen und der Kredite in den geldpolitischen Entscheidungsprozess eingeht, ist zumindest ein Ansatz, Aspekte der Finanzstabilität einzubeziehen. Nach den schlechten Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre bleibt es schwer verständlich, dass eine Konzeption wie das Inflation Targeting nach wie vor als der State of the Art der Geldpolitik gilt.

Erweiterung des Mandats?

Mit der Überprüfung und Neuorientierung ihrer geldpolitischen Strategie haben die Fed und die EZB, wenn auch nicht eine Erweiterung, so doch ein erweitertes Verständnis ihres Mandats vorgenommen. Das Mandat der amerikanischen Notenbank umfasst neben der Preisstabilität auch das Ziel einer hohen Beschäftigung. (Ein niedriger langfristiger Zins als dritter Bestandteil des Mandats wird kaum einmal erwähnt.) Mit der Neuformulierung des Beschäftigungsziels und Erklärungen ihres Chairman hat die Fed – zumindest indirekt – auch Verantwortung für die Beschäftigung der „black and hispanic community“ übernommen. Mit der ausdrücklich verteilungspolitisch be­gründeten Zielsetzung begibt sich die Notenbank auf ein Gebiet, das der den Wählern gegenüber zur Rechenschaftspflicht verantwortlichen Politik vorbehalten ist. Die Notenbank setzt sich damit noch stärker dem politischen Prozess aus und gefährdet damit de facto ihre Unabhän­gigkeit.

Ein wesentliches Element der neuen geldpolitischen Strategie der EZB ist die ausdrückliche Übernahme von Verantwortung für den Kampf gegen den Klimawandel. Der Klimawandel und die klimapolitischen Maßnahmen haben zweifelsohne erhebliche Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung. Die Konsequenzen zeigen sich in ökonomischen Größen wie Wachstum, Inflation, Beschäftigung. Die entsprechenden Variablen gehen in die makroökonomischen Modelle der Notenbank ein, die wiederum eine Grundlage für die geldpolitischen Entscheidungen bilden. Insoweit berücksichtigt die Geldpolitik also implizit klimapolitische Ziele. Darüber hinaus kann die EZB in ihren Entscheidungen über Käufe von Wertpapieren klimapolitischen Zielen Rechnung tragen. Inwieweit es der EZB trotz riesigen Aufwands gelingen kann, eine bessere Einschätzung des Risikos bzw. Vorteils „brauner“ bzw. „grüner“ Anlagen vorzunehmen, als Marktpreise dies ohnehin signalisieren, mag man zumindest mit einem Fragezeichen versehen.

Im Vergleich zur staatlichen Um­weltpolitik sind die Möglichkeiten der EZB erheblich eingeschränkt. Kann die Notenbank die von ihr selbst erzeugten hohen Erwartungen nicht erfüllen, untergräbt sie ihre Glaubwürdigkeit und gefährdet die Akzeptanz ihrer Unabhängigkeit, zu­mal sie sich mit der Verantwortung für ein aus geldpolitischer Sicht doch sehr fernes Gebiet zwangsläufig in politische Auseinandersetzungen be­gibt.

Die größte Bedrohung der Unabhängigkeit der EZB droht jedoch aus der Übernahme der Verantwortung für die Mitgliedschaft der Länder in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Mit dem „Whatever it takes“ ihres Präsidenten Draghi im Jahre 2012 hat die EZB nach allgemeinem Verständnis diese bis heute gültige Garantie deklariert. Diese Aufgabe fällt jedoch eindeutig in die Verantwortung der Regierungen der Mitgliedstaaten, die am Ende ihren Wählern gegenüber rechenschaftspflichtig sind. Das Statut der Un­ab­hängigkeit ist mit einer solchen politischen Rolle nicht vereinbar. Zwar ist die Unabhängigkeit in einem völkerrechtlichen Ver­­trag ga­­ran­tiert, der nur einstimmig ge­ändert werden kann. Da­­mit steht die Unabhängigkeit der EZB auf dem denkbar solidesten rechtlichen Fundament. Das heißt aber nicht, dass die EZB nicht de facto politischem Druck nachgibt und damit ihre Glaubwürdigkeit untergräbt.

Als Fazit aus diesen Überlegungen kann man festhalten:

1. Unabhängigkeit der Notenbank ist eine unentbehrliche Voraussetzung für dauerhafte Stabilität des Geldes.

2. In einer Demokratie ist die Unabhängigkeit legitimiert durch einen entsprechenden Beschluss des Parlaments. Grundsätzlich steht diese Entscheidung offen für eine Revision.

3. Die Unabhängigkeit der Notenbank lässt sich demokratisch nur rechtfertigen mit einem klaren und begrenzten Mandat. Die zentrale Aufgabe ist die Bewahrung der Geldwertstabilität.

4. Daraus folgt im Umkehrschluss: Die Unabhängigkeit der Notenbank ist nicht vereinbar mit einer Überschreitung oder auch Überdehnung des Mandats in Bereiche, die in einer Demokratie der den Wählern gegenüber verantwortlichen Politik vorbehalten bleiben müssen. Nicht in Wahlen erworbene Macht muss beschränkt und permanent durch entsprechendes Verhalten der Notenbank gerechtfertigt werden.

Von Otmar Issing