Geldpolitik

Gewissensspiegel für die EZB

Die Geldpolitik der EZB und anderer Notenbanken kostet Vertrauen. Das – und die Erfahrung durch die Inflation begünstigter Ungleichheiten – führt auf einen ökonomisch wie politisch bedenklichen Pfad. Ein Gastbeitrag.

Gewissensspiegel für die EZB

Jeder ist betroffen von der aktuellen Inflation. Die Gründe für die Preissteigerungen sind hoch komplex. Die Inflation zu bekämpfen ist Aufgabe der Europäischen Zentralbank (EZB). So ist es in den europäischen Verträgen geregelt. Geldpolitik hat also ein klares Ziel. Preisstabilität ist auch ein normativer Wert. Deshalb braucht es neben weit verbreiteter Pragmatik eine Ethik der Geldpolitik. Das Portfolio der EZB braucht einen Gewissensspiegel.

Preisstabilität als Vertrauen

Wir haben eine hohe Inflation in den USA und in Europa, die uns auch noch weiterhin begleiten wird. Die US-Notenbank Fed sowie die EZB und die britische Zentralbank erhöhen nach langer Zurückhaltung fast im Gleichschritt ihre Zinsen. Eine moderate Inflation ist in marktwirtschaftlichen Ordnungen die Regel und gewünscht.

Preisstabilität sichert die Funktion des Geldes als Tauschmittel, Wertaufbewahrungsmittel und Recheneinheit. Stabiler Geldwert ist Ausdruck menschlichen Vertrauens. Eine einmal in Fahrt gekommene Inflation eröffnet demgegenüber schnell einen Teufelskreis. Es werden in Tarifauseinandersetzungen höhere Löhne gefordert als Inflationsausgleich, das erhöht Kosten und dann wiederum die Preise.

Inflation ist ein süßes Gift der Politik. Wichtige Bedingung für die Preisstabilität sind auch solide Staatsfinanzen. Aber mit öffentlichen Schulden werden gerne soziale Wohltaten finanziert. Somit scheint die Sicherung der Preisstabilität ein Gegner von aktiver Sozialpolitik zu sein. Sie ist also ein unpopuläres Ziel, wenn sie schleichend im Verborgenen geschieht.

Die Geldpolitik ist deshalb nicht Aufgabe der Regierung, sondern Aufgabe einer möglichst unabhängigen Notenbank. In den Zentralbankgesetzen des Euro-Systems ist die Preisstabilität sogar als vorrangiges Ziel formuliert.

Inflation ist Hauptsorge

Die jetzt in Fahrt gekommene Inflation darf sich nicht etablieren. Setzt sie sich in den Köpfen der Menschen fest, werden ihre Folgen schon jetzt antizipiert, was ihre Fortsetzung bedeutet. Denn dann geben die Bürger in Sorge vor steigenden Preisen schneller mein Geld aus und verlange höhere Löhne. Deshalb muss glaubwürdig, d. h. zügig und nachhaltig gegengesteuert werden. Denn Inflation ist für die Bevölkerung kein theoretisches, sondern ein konkretes Problem, das ihren Alltag prägt. Gemäß einer Allensbach Umfrage für Deutschland bereitete bereits im vergangenen August die Inflation für 83% der Befragten die größte Sorge.

Inflation zerstört Tugend: Sinkendes Vertrauen ins Geld bedeutet ein sinkendes Vertrauen in die Wirtschaft und die Politik. Im Euro-Raum werden von der Zentralbank die be­ste­henden europäischen Verträge offensichtlich gebrochen. Diese verbieten nämlich ausdrücklich eine Schuldenunion und externe politische Einflussnahme. Beides ist inzwischen Normalität.

Lügen und Vertragsbrüche sind schlechte Vorbilder für Ehrlichkeit und Redlichkeit in der Gesellschaft. Die Sozialmoral nimmt dadurch deutlich Schaden. Das gefährdet den sozialen Zusammenhalt und fördert die soziale Spaltung sowie extremistische Haltungen. Eine gefährliche Haltung der Angst macht sich breit. Die Tu­gend des Sparens geht zudem verloren, mit negativen Folgen für nachhaltiges Wirtschaften ebenso wie für eine entsprechende Vorsorge für nachkommende Generationen und mit einer Einladung zur Verschwendung. Das alles verstößt zudem gegen den Wert der Generationengerechtigkeit.

Eingeschränkte Freiheit

Inflation ist sozial ungerecht: Sie belastet die einzelnen Einkommensgruppen sehr unterschiedlich. Untere Einkommensdezile sind zweifach negativ betroffen. Erstens fällt die Inflationsbelastung in diesen Segmenten überproportional aus und reduziert entsprechend stark das Realeinkommen. Zudem sinken die Sparquoten, in den unteren Segmenten zu einem großen Teil sogar in den negativen Bereich.

Familien ohne finanzielle Rücklagen sind besonders betroffen. Sie haben keine Möglichkeit, angesichts der gesunkenen Kaufkraft ihres Einkommens auf Produkte von noch minderer Qualität zu wechseln, da diese bereits zu einem großen Teil Bestandteil ihres Warenkorbs sind. Gleiches gilt für viele Rentner. Eine Altersarmut wird verstärkt. Das Realeinkommensgefälle in der Gesellschaft und das Vermögensgefälle verstärken sich.

Inflation schränkt die Freiheit des Einzelnen ein: Im aktuellen inflationären Umfeld werden Sparer systematisch enteignet und bestraft. Die Altersvorsorge gerät in Gefahr. Verstärkt durch sinkende Sparquoten werden dadurch künftige Handlungsspielräume der Menschen eingeschränkt.

Fehlende Ausweichmöglichkeiten insbesondere der unteren Einkommensgruppen auf billigere Produkte und reduzierte Handlungsspielräume in der Zukunft schränken die Freiheit des Einzelnen ein. Dies ist ein Wert, der von der großen Mehrheit der Bevölkerung als zentraler Wert für unsere Gesellschaft angesehen wird, nach der Allensbach-Umfrage für viele noch wichtiger als ein materiell verstandener Wohlstand. Wohlstand im ganzheitlichen Sinne Ludwig Erhards aber meint Autonomie der Menschen. Unfreiheit durch Inflation widerspricht also diesem zentralen Wert Sozialer Marktwirtschaft.

Für die aktuellen inflationsbedingten Entwicklungen und Belastungen in der Gesellschaft tragen in besonderem Maße die Zentralbanken Verantwortung. Allein seit den quantitativen Lockerungen Anfang 2015 ist im Euro-Raum die Geldmenge M3 um rund 55% gewachsen, rund fünfmal so stark wie das reale Bruttoinlandsprodukt. Blickt man für den gleichen Zeitraum auf das Nachbarland Schweiz, so ist dort bei einer etwas kräftigeren BIP-Veränderung ein Anstieg der Geldmenge um lediglich 21% zu verzeichnen. Auch in der Schweiz gab es zuletzt Preissteigerungen, allerdings in der Größenordnung von vergleichsweise geringen 3% bis 4%.

Angesichts dieser überschießenden Liquiditätsentwicklung hierzulande kommt die Inflationsbeschleunigung, die mit dem Hochschnellen der Produzentenpreise bereits vor dem Krieg in der Ukraine einsetzte, nicht überraschend. Mit ihrer jahrelangen unkonventionellen expansiven Geldpolitik hat die Notenbank zwar versucht, akademisch klingende Ziele wie eine verbesserte Wirksamkeit einzelner geldpolitischer Transmissionsmechanismen zu erreichen. In Kauf genommen hat sie damit letztlich die höchsten Inflationsraten seit Bestehen der Währungsunion, Unsicherheiten und sinkendes Vertrauen. Sinkendes Vertrauen erhöht letztlich die Komplexität an den Märkten und die des gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Bedenklicher Pfad

Während die internationalen Finanzmärkte sich mit Neueinschätzungen der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung und über neue Risikoprämien schnell anpassen können, führt sinkendes Vertrauen und die Erfahrung neuer Ungerechtigkeiten im gesellschaftlichen Miteinander auf einen neuen, aus ökonomischer wie ethischer Sicht bedenklichen Pfad. Die nun in Gang gekommene Spirale des Misstrauens hätte durch eine transparente und weniger expansive Geldpolitik der Zentralbanken sehr wahrscheinlich vermieden werden können. Es ist Zeit für einen Paradigmenwechsel.

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