London

Benzinvorrat im Teekessel

Der Run auf die Zapfsäulen nervt alle, die mit dem Auto zur Arbeit fahren müssen. In den sozialen Medien zeigt sich allerdings, dass die Briten ihren Humor noch nicht verloren haben.

Benzinvorrat im Teekessel

Auf der Gegenseite schiebt sich im für diese Jahreszeit typischen Nieselregen die allmorgendliche Kolonne von Lieferwagen Richtung Stadt – Handwerker, die allerlei Aufträge im Speckgürtel der britischen Metropole vor sich haben. Eigentlich sollte es nach draußen schneller vorangehen, doch es bewegt sich nichts. Eine Spur der Ausfallstraße ist zur Warteschlange einer Tankstelle geworden, die offenbar gerade neu beliefert wurde. Weil das nicht jedem klar ist, kommt es immer dann, wenn jemand merkt, was vor sich geht, und aus der Schlange ausscheren will, zu Beinahe-Unfällen. Der Run auf die Zapfsäulen betrifft auch diejenigen, die noch genug im Tank haben.

Die Briten halten sich über soziale Medien darüber auf dem Laufenden, wo gerade Sprit nachgefüllt wurde. Wer einen Tanklaster auf dem Gelände stehen hat, kann sich über mangelnde Kundschaft nicht beklagen. Seitdem BP vor einigen Tagen ankündigte, wegen Lkw-Fahrermangels einige Tankstellen vorübergehend zu schließen, wird gehamstert, was das Zeug hält. Das Bruttoinlandsprodukt für September dürfte einen ordentlichen Schub dadurch bekommen, dass jeder noch einmal sicherheitshalber den Tank vollmacht. Wer auf das Auto angewiesen ist, um zur Arbeit zu kommen, ist genervt.

Zumindest haben die meisten Verkehrsteilnehmer ihren Humor noch nicht verloren. „Weiß jemand, ob Benzin Plastikbadewannen auflöst?“, fragt jemand im sozialen Netz. „Nach sechs Besuchen an der Tankstelle habe ich es geschafft, meinen Teekessel, meine Wärmflasche, diverse Fahrrad-Trinkflaschen und alle meine Töpfe mit unverbleitem Benzin zu füllen. Wenn ich einen Teil davon in die Badewanne umfüllen könnte, hätte ich mehr Lagerkapazität.“ Sie habe einfach die ganzen Klopapierrollen benutzt, die noch von den Panikkäufen vor dem EU-Austritt übrig waren, um das Benzin damit aufzusaugen, berichtet eine Nachbarin. Sie wringe sie dann über der Tanköffnung aus. „Ich habe einfach die ganzen Plastiktüten benutzt, die sich in all den Jahren unter dem Spülbecken angesammelt haben“, antwortet eine andere. Allerdings sei die Lagerung im Garten ein Problem, denn die Nachbarn seien Raucher. „Und dabei erkläre ich ihnen wieder und wieder, wie schädlich das Rauchen ist.“

Es gibt natürlich auch Leute, die keinen Spaß verstehen. Sie fragen, ob die Frage nach den Plastikbadewannen ernst gemeint gewesen sei. Denn vielleicht verbirgt sich ja etwas dahinter, worüber sie sich empören könnten. Und andere lassen keine Gelegenheit ungenutzt, um ihrem Frust über den Brexit Ausdruck zu verschaffen, finden damit aber nur dort Anklang, wo man ohnehin schon immer der Meinung war, dass er in den Untergang führen würde. Der Bodensatz wird an der Zapfsäule handgreiflich, wenn sich andere vermeintlich vorgedrängelt haben. Aber dazu kommt es eher selten, denn hier lernen schon die Kinder, wie man sich ordentlich anstellt.

Mit Blick auf die Berichterstattung über die Krise lohnt sich ein kurzer Rückblick: Großbritannien hieß 2004 die Menschen aus den acht neuen Mitgliedsländern der EU-Osterweiterung willkommen, während sich Deutschland und Österreich bei der Öffnung ihrer Arbeitsmärkte sieben Jahre Zeit ließen. Zum Votum für den Brexit kam es nicht, weil die britischen Wähler die Osteuropäer nach Hause schicken wollten, die von der Freizügigkeit der Arbeitnehmer Gebrauch gemacht haben. Rund eine Million Polen leben im Vereinigten Königreich. Man trifft sie und ihre Familien in der Kirche, vor der Schule oder im Pub. Beim Brexit ging es darum, die weitere Zuwanderung aus der EU zu bremsen, denn damals zog starkes Wachstum zahllose Arbeitssuchende aus den Armutsregionen der Staatengemeinschaft an. Schon Boris Johnsons Vorgängerin Theresa May machte mehrfach klar, dass alle im Land lebenden EU-Bürger willkommen sind, und forderte sie zum Bleiben auf. Viele sind längst eingebürgert. Allen anderen wird auf Antrag eine Niederlassungserlaubnis ausgestellt. Dass dennoch viele Lkw-Fahrer abgewandert sind, lässt sich nicht leugnen. Die Pandemie sorgte für einen weiteren Aderlass, weil manche Familienangehörige in ihren Herkunftsländern betreuen wollten. Flucht vor dem Brexit sieht anders aus.

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