LeitartikelIndustriepolitik

Es steht viel auf dem Spiel

In Europa bahnt sich die Deindustrialisierung ihren Weg. Den Märkten freien Lauf zu lassen, ist angesichts der weltweiten Hegemonialbestrebungen jedoch keine gute Idee.

Es steht viel auf dem Spiel

INDUSTRIEPOLITIK

Es steht viel auf dem Spiel

Von Annette Becker

So einfach wie es volkswirtschaftliche Lehrbücher suggerieren, ist die Realität nicht. Industriepolitik muss heute neu gedacht werden.

An Warnungen vor der Deindustrialisierung Deutschlands und Europas mangelt es seit Jahren nicht. Aus den ärgsten Befürchtungen wird allmählich jedoch bittere Realität. Beinahe im Tagesrhythmus kündigen Chemiekonzerne Werksstilllegungen an oder schließen ganze Standorte. Es besteht kein Zweifel: Die Basischemie ist in Europa auf dem Rückzug. Die Stahlindustrie macht nicht minder mit Hiobsbotschaften von sich reden. Thyssenkrupp Steel legt in den nächsten Jahren zwei Hochöfen still. Wettbewerber ArcelorMittal verzichtet auf Investitionen in die Zukunft – zumindest in Deutschland.

Brandbriefe nach Brüssel und Berlin begleiten das Geschehen. Es ist mehr als das übliche Geklapper der Lobbyverbände, die staatliche Unterstützung einfordern. Beide Branchen stehen am Anfang der industriellen Wertschöpfungsketten – ohne ihre Produkte werden nicht nur keine Maschinen, Autos oder Windräder gebaut. Sie sind Bestandteil der meisten Alltagsgegenstände.

Gipfelrennen

Entsprechend fand Mitte Mai der erste EU-Chemiegipfel statt, vor wenigen Tagen präsentierte die Kommission einen Aktionsplan. Auch Bundeskanzler Friedrich Merz zeigt sich nicht abgeneigt, demnächst einen Stahl-Gipfel abzuhalten. Dabei hatte sich die Vorgängerregierung erst im September 2024 in Duisburg ein Stelldichein mit der Branche gegeben. Am Ende stand auch hier ein nationaler Aktionsplan. Bislang ist es allerdings bei warmen Worten geblieben.

Die Entscheidungen der Unternehmen folgen der betriebswirtschaftlichen Logik. Und wer hätte vor zehn Jahren nicht in den Chor derer eingestimmt, die darin das Ergebnis strukturellen Wandels sehen in einer arbeitsteiligen, globalisierten Welt? Unternehmen, die aus eigener Kraft im internationalen Wettbewerb nicht mithalten können, verschwinden vom Markt. Produktion findet in den Regionen mit den größten komparativen Kostenvorteilen statt – ganz einfach. Doch so einfach, wie es volkswirtschaftliche Lehrbücher suggerieren, ist die Realität eben nicht. Wenngleich es keine gute Idee ist, aus nostalgischen Gründen an alt Bewährtem festzuhalten: Industriepolitik muss heute neu gedacht werden.

Rohstoffe als Waffen

Spätestens seit der Energiekrise, die der russische Angriffskrieg auf die Ukraine nach sich zog, ist evident, was einseitige Abhängigkeiten bedeuten. Kann und will es sich Europa leisten, bei den elementaren Vorprodukten in den Produktionsketten vom Ausland abhängig zu sein? In einer Welt, in der immer mehr Länder Rohstoffe und andere Produkte zur politischen Waffe umfunktionieren, beantwortet sich diese Frage von selbst. Klar ist aber auch, dass damit der Deglobalisierung Vorschub geleistet wird. Das kostet Wohlstand.

Es geht um die richtigen industriepolitischen Antworten. Hauptursachen für den Verlust der Wettbewerbsfähigkeit sind die Energie- und die CO2-Preise. Erstere sind im internationalen Vergleich viel zu hoch, letztere gibt es in dieser Form nur in der EU. Das heißt nun keineswegs, dass sich Europa nach Trump'scher Manier vom Klimapfad abwenden sollte – ganz im Gegenteil. Nicht nur, weil „grünen“ Produkten mutmaßlich die Zukunft gehört und sich hier – wenn auch befristet – ein Wettbewerbsvorteil erarbeiten lässt. Viel entscheidender ist, dass die Folgekosten eines ungebremsten Klimawandels um ein Vielfaches höher ausfallen als die zugegebenermaßen extrem kostspielige Transformation.

Keine nationalen Alleingänge

Industriepolitisch muss es darum gehen, die Energie- und Klimawende zum Erfolg zu führen. Verbote und Strafen werden dafür nicht ausreichen, vielmehr bedarf es breit angelegter, einfacher Anreizmechanismen etwa nach dem Vorbild des Inflation Reduction Act. Und auch wenn das Wunschdenken ist: Die EU muss dabei am Steuer sitzen, damit wenigstens innerhalb des Binnenmarkts Standortvorteile – Stichwort: grüner Strom – genutzt werden können. Im Umkehrschluss verbieten sich nationale Alleingänge.

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