Wahrnehmung und Wirklichkeit am Anleihenmarkt
Im Blickfeld
Wahrnehmung und Wirklichkeit am Anleihenmarkt
In Großbritannien sind die Renditen von Staatsanleihen mittlerweile so hoch wie nie zuvor in diesem Jahrhundert. Die Frage ist nur, welche Schlüsse man daraus zieht.
Von Andreas Hippin, London
Großbritannien ist spätestens seit dem Brexit-Referendum ein zutiefst gespaltenes Land. Da ist es kein Wunder, dass auch so langweilige Themen wie der Handel mit Staatsanleihen (Gilts) ideologisch aufgeladen werden. Die Renditen sind so hoch wie zuletzt 1998. Konservative warnen deshalb schon vor dem Staatsbankrott. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis Schatzkanzlerin Rachel Reeves den IWF um Hilfe bitten müsse. Mehr als Meinungsmache ist das nicht. Das zeigt sich schon daran, dass die Beruhigung am Anleihenmarkt den Tories nahestehenden Medien kaum eine Zeile wert war.
Die staatliche Schuldenagentur DMO (Debt Management Office) kann sich jedenfalls über einen Mangel an Käufern nicht beschweren. Seit dem Regierungswechsel im Juli vergangenen Jahres waren Gilt-Emissionen im Schnitt 3,18-fach überzeichnet, wie Bill Blain, CEO von Wind Shift Capital Advisors, ausgerechnet hat. Das sei eigentlich Ausdruck großen Erfolgs. Denn es zeige, dass es für die dreifache Menge Abnehmer gegeben hätte.
Nachfrage verschiebt sich
Die einzige Ausnahme seien Gilts mit Laufzeiten von zehn und mehr Jahren gewesen. Da habe es im vergangenen Jahr fünf Deals gegeben, die unter 3,0 geblieben seien. Im Schnitt seien sie aber immer noch 2,89-fach überzeichnet gewesen. Das sei immer noch in einem Bereich, wo man von einem Erfolg sprechen könne, findet Blain.
Darin spiegelt sich ein weltweit zu beobachtendes Phänomen wider. Leistungsorientierte Altersvorsorgepläne spielen in Ländern wie Großbritannien oder den Niederlanden keine so große Rolle mehr wie in der Vergangenheit. Sie machten einen wesentlichen Teil der Nachfrage nach Gilts mit langen Laufzeiten aus. Denn sie wollen das ihnen anvertraute Geld so anlegen, dass regelmäßige Zinseinnahmen die von ihnen erwarteten Rentenzahlungen decken.
Anleger fordern höhere Renditen
Die Regierung hat trotz alledem keine Probleme, sich über Gilts zu finanzieren. Seit ihrem Amtsantritt hat sie am Anleihenmarkt mehr als 300 Mrd. Pfund eingesammelt. Von einem Käuferstreik kann keine Rede sein. Allerdings verlangen Investoren höhere Renditen. Das hat vor allem mit ihren Inflationserwartungen zu tun. Würden die Renditen steigen und das Pfund abwerten, müsste man sich mehr Sorgen machen. Doch die britische Währung zeigt sich von den Kursverlusten der Staatsanleihen unbeeindruckt.
Am Markt war schnell von der „Idiotenprämie“ die Rede, die Großbritannien nach einer Reihe von politischen Fehlentscheidungen abverlangt werde. Tatsächlich kostet es kein anderes G7-Mitgliedsland so viel, Geld am Kapitalmarkt aufzunehmen.
Riskante Derivategeschäfte
Im Jahr 2022 war schon einmal von einer „Idiotenprämie“ die Rede. Damals schossen die Renditen von Gilts nach oben, nachdem die konservative Regierung von Elizabeth Truss einen nicht gegenfinanzierten Wachstumshaushalt vorgelegt hatte. Die Häme in Labour nahestehenden Medien war groß. Dabei wurde ausgeblendet, dass riskante Derivategeschäfte von Pensionsfonds einen nicht unerheblichen Anteil am Meltdown hatten, der die Bank of England zu Stützungskäufen zwang. Dabei wollte sie den seit der Finanzkrise zusammengekauften Anleihenberg eigentlich Schritt für Schritt abschmelzen.
Es war kein Ruhmesblatt für die Zentralbank, deren Finanzstabilitätshüter einen solchen Anstieg der Renditen an einem Handelstag für so unwahrscheinlich hielten, dass sie keine vorbeugenden Maßnahmen ergriffen.
Erfolg misst sich am Ziel
Wenn eine Regierung auf höhere Löhne, mehr staatliche Investitionen und eine rigorose Klimapolitik setzt, ist eine höhere Teuerungsrate vorprogrammiert. Das Problem von Labour besteht darin, dass sich dadurch das Wirtschaftswachstum bislang nicht so richtig ankurbeln ließ. Der Zuwachs von 0,3% im zweiten Quartal übertraf zwar die Markterwartungen. Aber viele hoffen immer noch auf eine Rückkehr zu den weitaus höheren Werten, die vor der Finanzkrise üblich waren.
Aus Sicht von Robert Wood, dem für Großbritannien zuständigen Chefvolkswirt von Pantheon Macroeconomics, hat sich das Potenzialwachstum auf 1,0% bis 1,5% pro Jahr verlangsamt. Die 0,3% seien ein anständiger Wert. Denn wegen der US-Zölle und aus steuerlichen Gründen sei Geschäft ins Auftaktquartal vorgezogen worden. Mehr Wachstum bedeute mehr Inflation. Im Schnitt habe das Wachstum im ersten Halbjahr bei 0,5% pro Quartal gelegen, also deutlich über dem Potenzialwachstum.
Prima Klima
Weitgehend untergegangen ist der Geschäftsklimaindex, den die Lloyds Banking Group erstellt. Er stieg im August den vierten Monat in Folge und erreichte den höchsten Stand seit 2015. „Der anhaltende Aufwärtstrend des Geschäftsklimas legt nahe, dass britische Firmen optimistisch bleiben, was die eigenen geschäftlichen Aussichten angeht“, sagt der Volkswirt Hann-Ju Ho von Lloyds Corporate & Institutional. Mit Blick auf die Volkswirtschaft insgesamt gebe es allerdings eine „moderate Abkühlung“ der Zuversicht.
Die schottische Großbank wertet für den Index die Antworten einer Online-Umfrage unter 1.200 unterschiedlich großen Firmen aus allen Branchen und Regionen aus. Ho zufolge konzentrierten sich die Firmen auf die Dinge, die sie beeinflussen können. Viele wollten Wachstumschancen wahrnehmen, etwa durch den Einstieg in neue Märkte oder die Anwendung neuer Technologien.
Gutgelaunte Dienstleister
Auch der Einkaufsmanagerindex für das Dienstleistungsgewerbe, der den Ist-Zustand in der in Großbritannien dominanten Branche gut abbildet, fand wenig Beachtung. Er stieg im August von 51,8 auf 54,2 Zähler. Das ist der höchste Stand seit April vergangenen Jahres. Die Erwartungen an die künftige Geschäftsentwicklung seien so hoch wie seit zehn Monaten nicht, sagt Tim Moore, Economics Director beim Finanzdatenanbieter S&P Global Market Intelligence.
Moore wertet das als klares Signal dafür, dass sich die Wachstumsaussichten der Branche im Vergleich zum Frühjahr verbessert haben. Gleichwohl machten sich Firmen weiter Sorgen über neue Steuererhöhungen im Herbst. Alles eine Frage der Wahrnehmung. Die in den USA zu beobachtende Politisierung der Umfragen gibt es in dieser Form in Großbritannien glücklicherweise noch nicht.