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Brexit: Spielstand zum Ende der Verlängerung

Börsen-Zeitung, 7.1.2021 Überschattet von den wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie ist zum Jahreswechsel die vereinbarte elfmonatige Brexit-Übergangsphase für die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen der Europäischen...

Brexit: Spielstand zum Ende der Verlängerung

Überschattet von den wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie ist zum Jahreswechsel die vereinbarte elfmonatige Brexit-Übergangsphase für die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union (EU) und Großbritannien abgelaufen. Brüssel und London konnten sich zwar auf ein Abkommen einigen. Dieses beinhaltet aber keinerlei Regelungen für Dienstleistungen und damit auch nicht für die Finanzindustrie. Das heißt, für die Finanzbranche fällt Großbritannien auf den Status eines Drittlandes zurück. Vor dem Hintergrund dieses Exits von London als führendem internationalen EU-Finanzplatz sollte die Staatengemeinschaft ihre Pläne für eine Kapitalmarktunion zügig umsetzen.Die britischen und die europäischen Verhandlungspartner haben während der vergangenen Monate wiederholt deutlich gemacht, dass sie kein Freihandelsabkommen um jeden Preis anstreben. Und genau das ist jetzt auch eingetreten. Das vorliegende Abkommen regelt kurzfristig notwendige Anpassungen, um ein Minimum an Warenverkehr und zwischenstaatlicher Kooperation sicherzustellen. Jedoch sind umfassende und verlässliche Regelungen zum gegenseitigen Marktzugang für Finanzdienstleister nach Wegfall des EU-Passes nicht enthalten. Nun DrittstaatenäquivalenzFormell ist Großbritannien seit dem 1. Januar 2021 kein EU-Land mehr. Jetzt bildet das Prinzip der Drittstaatenäquivalenz die Rechtsgrundlage einer zu erbringenden Finanzdienstleistung innerhalb der EU und des Vereinigten Königreichs. Je ähnlicher die Rechtsgrundlagen, desto reibungsloser funktioniert der gegenseitige Marktzugang. Entwickeln sich die Rechtssysteme unterschiedlich, kann ein Marktzugang erschwert werden – ein im globalen Kontext häufig beobachtbarer Vorgang.Zahlreiche in Großbritannien ansässige internationale Großbanken haben sich für den Wegfall des EU-Passes bereits gewappnet. Seit 2016 entwickelten sie individuelle Europäisierungsstrategien, um sich gegen die erwarteten Abweichungen der gesetzlichen Grundlagen nach dem Brexit und der damit verbundenen Verkomplizierung des Zugangs zu den EU-Kapitalmärkten abzusichern. Laufender GeschäftsbetriebVor allem US-amerikanische Großbanken richten seit dem Brexit im Februar 2020 ihre Strategien neu aus und gründeten europäische Tochterunternehmen. Ein Großteil dieser Häuser, die sogenannten “First Mover”, hat den hoch komplexen Prozess bei laufendem Geschäftsbetrieb bereits abgeschlossen: Sie erwarben Banklizenzen, verlagerten Personal und Kunden von London auf den Kontinent, meist nach Frankfurt oder Paris, oder warben neue Mitarbeiter vor Ort an. Die sogenannten “Second Mover”, die diese erforderlichen Anpassungen verzögert eingeleitet haben, profitierten dadurch zwar von einer höheren Entscheidungssicherheit. Gleichzeitig haben sie dadurch auch einen Startnachteil gegenüber den Vorreitern, von denen einige bereits ab 2021 operativ voll betriebsfähig sein werden.Internationale Banken werden künftig in demselben makroökonomischen Umfeld der EU aus Niedrigzinsen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronakrise wie ihre europäischen Wettbewerber agieren. Mittelfristig dürfte sich dadurch der Wettbewerb in einzelnen Marktsegmenten der Staatengemeinschaft, etwa in den Bereichen Unternehmensfinanzierung und Depositengeschäft, verstärken. Persönliche BeziehungenGeraten europäische Banken dadurch ins Hintertreffen? Das Gegenteil ist der Fall: Finanzgeschäfte erfordern belastbare persönliche Beziehungen und Vertrauen. Beides ist auch zwischen Akteuren aus verschiedenen kulturellen Kontexten möglich. Sie benötigen aber Zeit, um zu wachsen. Diesen Zeitvorteil können lokale Banken mit ihrem bestehenden Beziehungsgeflecht nun nutzen, um sich auf die neuen Wettbewerber im heimischen Markt einzustellen. Global operierende Banken wiederum stellen durch ihre Konzernstruktur auch künftig einen Zugang zum britischen Kapitalmarkt sicher. Marktzugang sichernAuf mittlere Frist wird es sich die EU aus politischen Gründen nicht leisten können, einem Nichtmitglied denselben Zugang zum europäischen Markt zu gewähren wie einem Mitglied. Sie liefe damit Gefahr, dass Mitglieder austreten, die sich nicht mehr an der gemeinschaftlichen Finanzierung der EU beteiligen, aber gleichzeitig den Marktzugang sichern wollen. Echte Fortschritte in den Brexit-Gesprächen für eine umfassende Äquivalenz sind allerdings erst zu erwarten, wenn sich die Rahmenbedingungen dahingehend ändern, dass eine oder beide Seiten den Wert eines Abkommens höher als den Status quo einschätzen. Neue RealitätFür die europäischen Kredit- und Kapitalmärkte und die europäische Realwirtschaft bedeutet dies, dass die EU-Staaten auf unabsehbare Zeit mit einem eingeschränkten Zugang zum Finanzplatz London als wichtigstem Finanzplatz der EU rechnen müssen. Das Szenario eines harten Brexits für die Finanzindustrie ohne weitreichende Äquivalenzanerkennung ist jetzt Realität. Hinzu kommen die zu bekämpfenden wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie. Die EU benötigt nun mehr denn je einen integrierten Kapitalmarkt, um ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit langfristig zu sichern. Stephan Lutz, Capital Markets Lead PwC Deutschland und Philipp Völk, Senior Manager PwC Deutschland