Wolfgang Breuer, Provinzial

„Es kann nicht jeder auf seiner Position verharren“

Ein Jahr nach der Flut hält der Provinzial-Chef eine Kompromisslösung zur Elementarversicherung für möglich. Die Integration nach der Fusion im eigenen Haus sieht Wolfgang Breuer voll auf Kurs.

„Es kann nicht jeder auf seiner Position verharren“

Antje Kullrich.

Herr Breuer, die Folgen des Unwetters „Bernd“ waren für die Provinzial das teuerste Ereignis ihrer Geschichte. Wie weit sind Sie mit der Bewältigung und Abwicklung der Schäden?

„Bernd“ war nicht nur teuer, sondern auch ein absolut außergewöhnliches Ereignis. Wir haben in der Bilanz 2021 rund 1,6 Mrd. Euro Bruttoschaden verbucht, aber mit 41000 gar nicht so viele Schadenmeldungen gehabt. Der durchschnittliche Einzelschaden lag mit rund 40000 Euro extrem hoch. Wir haben bislang rund 1 Mrd. Euro ausgezahlt und zwischen 60 und 70% der Schäden final beglichen. Unsere Geschäftsstellen in der Region haben Vollmachten von bis zu 30000 Euro bekommen, die sie ohne Rücksprache zusagen konnten. Auch für unsere Beschäftigten war das eine hohe emotionale Belastung. Auch einige unserer Agenturen in den Flutgebieten waren teilweise existenzbedrohend beschädigt.

Im Zusammenhang mit der Flutkatastrophe äußern immer wieder Kunden ihren Unmut über ihre Versicherer. Wie viele Rechtsstreitigkeiten gibt es im Zusammenhang mit der Flut bei der Provinzial?

Wir haben im Moment einen einzigen Fall, der öffentlich geworden ist und nicht anders gelöst werden konnte.

Könnte es im Abschluss 2022 noch einen größeren Schadennachlauf aus der Flut geben?

Wir gehen davon aus, dass wir komfortabel reserviert sind, sogar unter Berücksichtigung der Inflation. Unser Puffer dürfte groß genug sein. Die Einzelschadenmeldungen summieren sich auf 1,5 Mrd. Euro, wir haben aber 1,6 Mrd. Euro reserviert.

In der Schaden- und Unfallversicherung haben die Bruttoschadenzahlungen mit 4 Mrd. Euro ihre Beitragseinnahmen im vergangenen Jahr komplett aufgefressen. Gut 1 Mrd. Euro davon haben die Rückversicherer getragen. Wie angespannt ist das Verhältnis zu Ihren Rückversicherern heute? Wie hart waren die Verhandlungen?

Wir haben natürlich die Rückversicherungspolitik überprüft. Denn „Bernd“ war ein Ereignis, das in dieser Ausprägung in den Schadenmodellen nicht vorgekommen ist. Die Provinzial Rheinland hat im Jahr 2020 eine Rückversicherung eingekauft, die sehr solide war – und zwar in der höchsten Kategorie, die überhaupt zu bekommen war. SolvencyII verlangt Eigenkapitalschutz für ein 200-Jahr-Ereignis, wir hatten Rückversicherungsschutz für ein 500-Jahr-Ereignis gekauft. Das ist nach Aussagen der Rückversicherer sehr viel konservativer, als es viele Wettbewerber tun. Wir haben jetzt noch einmal die Sicherheitsmargen nach oben gesetzt – es kann ja auch morgen noch etwas passieren. Das haben wir auch voll platziert bekommen zu für uns kalkulatorisch vertretbaren Preisen. Es war schon eine anstrengende Erneuerungsrunde, aber wir haben alle Deckungen, die wir brauchten, bekommen.

Was sind ansonsten die Lehren aus „Bernd“? Welche Konsequenzen zieht die Provinzial aus der Katastrophe?

Erst mal ist positiv zu vermerken, dass wir so eine Katastrophe ausgehalten haben, und zwar über die gesamte Wertschöpfungskette. Wir werden ganz klar daran arbeiten, die Produkte in der Zukunft für Elementarschäden tragfähiger zu gestalten. Beratung und Prävention werden immer wichtiger. Wir können durch Technik zum Beispiel mittlerweile auswerten, welches Haus in einer Mulde steht. Es gibt dann auch Maßnahmen, die dem einzelnen Kunden individuell helfen.

Wie viele Wohngebäudepolicen haben bei der Provinzial auch einen Elementarbaustein?

Im Neugeschäft und immer dann, wenn wir den Vertrag anpacken dürfen, sind das zwei Drittel. Im Bestand haben wir eine Quote von gut 50%.

Wie stehen Sie zu einer Pflichtversicherung gegen Elementarschäden, für die sich die Ministerpräsidentenkonferenz ausgesprochen hat?

Die Ziele von Versicherern und Politik sind völlig identisch, nämlich den Bürgerinnen und Bürgern Versicherungsschutz zu ermöglichen und zu helfen, dass er auch wirklich abgeschlossen wird. Alles Weitere ist eine Frage der Umsetzung. Eine Pflichtversicherung ist die Ultima Ratio, es ist ein Eingriff in die Vertragsfreiheit in einem Fall, wo es um Eigenschutz geht. Die Ausgestaltung einer Pflichtversicherung wäre auch eine knifflige Angelegenheit: Gibt es neben der Pflicht, sich zu versichern, auch einen Kontrahierungszwang? Wie verpflichtet man jemanden, der in einem gefährdeten Gebiet lebt, sich zu versichern? Und zwar so, dass er es auch bezahlen kann? Das ist alles nicht trivial. Im Zweifel könnte das dazu führen, dass das Kollektiv in solchen Fällen zu einer Subvention verpflichtet wird. Oder eine Art soziale Umlage aus anderen Quellen kommt. Denn sonst wäre der Versicherungsschutz für jemanden im Hochwassergebiet nicht bezahlbar. Das Konzept des GDV, das wir unterstützen, sieht Opt-out vor. Die Politik sagt, das sei nicht genug, es sollte eine Intensitätsstufe mehr sein. Ich glaube aber, dass eine Lösung gelingen kann.

Wie könnte die denn aussehen?

Feuer und Sturm sind historisch in der Gebäudeversicherung drin. Jetzt lernen wir gerade, dass Wasserereignisse aufgrund der Klimaentwicklung eben auch zu einer großflächigen Gefahr werden. „Bernd“ war ja nicht nur das Ahrtal, sondern hat eine breite Schneise der Verwüstung gezogen, auch in Belgien und in Nordrhein-Westfalen. Es könnten in die Grunddeckung der Wohngebäudeversicherung wesentliche Elementarereignisse eingeschlossen werden. Sturm und Hagel sind heute schon drin, Wasserereignisse müssten hinzukommen. Eine Differenzierung wäre nicht mehr zulässig. Studien sagen, dass Wasser und Dürre, die Waldbrände auslöst und Ernteausfälle bedeutet, die größten Gefahren durch die Klimakrise sind. In der Frequenz werden sich die schweren Ereignisse grob in etwa verzwölf­fachen. Wasser und Trockenheit werden die Versicherer beschäftigen. Deshalb könnte man diskutieren, ob man diese Gefahren in die allgemeine Gebäudeversicherung mit einbezieht. Im Detail muss man noch sehen, wie man das genau macht. Aber ich glaube, dass das der Schlüssel ist. Ich glaube an die Leistungsfähigkeit der Versicherungswirtschaft, weil sie in Deutschland so leistungsfähig ist wie sonst kaum auf der Welt. Mein Petitum ist, dass wir uns mit der Politik zusammensetzen und eine Lösung finden. Es kann nicht jeder auf seiner Position verharren, denn dann kommen wir nicht weiter.

Die Fusion, die zum 1. Januar 2021 vollzogen wurde, war der zweite Kraftakt für die Provinzial. Nach der Aufregung um mehrere ge­scheiterte Versuche in der Vergangenheit­ verlief der Zusammenschluss relativ geräuschlos. Auch Personalfragen waren schnell geklärt. Wo lief es nicht so gut und was waren die größten Klippen?

Wir sind jetzt schon sehr froh, dass wir die Fusion hinbekommen haben. Der Schritt war absolut richtig. Wir sind sehr gut vorangekommen in unserer organisatorischen Neuaufstellung – die ist fertig. Was wir nicht gebraucht haben, ist die Kombination aus Corona, „Bernd“ und der sich jetzt abzeichnenden Wirtschaftskrise. Unternehmenskulturen online über „Teams“ zusammenwachsen zu lassen, ist eben sehr viel schwieriger als mit echten Treffen. In dem Prozess sind wir nicht so weit, wie wir uns das gewünscht haben, aber wir sind auf gutem Weg. Jede Fusion ist außerdem eine echte Herausforderung für die IT-Landschaft und da haben wir auch noch nicht alle Klippen umschifft. Das Zusammenlegen von Systemen und Beständen ist komplex.

Wie hoch sind denn jetzt die Aufwendungen für die Fusion und welche Synergieeffekte lassen sich aus dem Zusammenschluss ziehen?

Wir sind voll im Plan. Die Gesamtkosten der Fusion belaufen sich auf rund 143 Mill. Euro, die Synergieeffekte werden am Ende etwa 97 Mill. Euro pro Jahr ausmachen. Von 2027 an werden sie voll greifen. Im laufenden Jahr stehen 37 Mill. Euro Kosten positive Effekte von gut 32 Mill. Euro gegenüber. Wir sind also im Saldo 2022 noch leicht negativ. Der Break-even auf Jahresbasis wird 2024 erreicht.

Thema Lebensversicherung: Da hat sich die Lage durch die Zinswende gedreht. Im vergangenen Jahr haben Sie noch rund 300 Mill. Euro der Zinszusatzreserve zuführen müssen. Werden Sie in diesem Jahr schon etwas davon auflösen können? Und wie sieht es mit stillen Lasten aus?

Insgesamt zeigen unsere Berechnungen für unsere beiden Lebensversicherer, dass wir voraussichtlich in diesem Jahr schon leicht Zinszusatzreserve auflösen können. In der Provinzial Rheinland Leben haben wir keine stillen Lasten, in der Provinzial Nordwest Leben gibt es seit April welche. Die Entwicklung ist rasant. So etwas habe ich noch nicht erlebt. Für die Lebensversicherer ist das ein echter Kraftakt. 2022 und 2023 müssen sich die Lebensversicherer umstellen. Danach wird es Wind unter den Flügeln geben. Der Zins ist zurück, damit sind zinsbasierte Geschäftsmodelle auch zurück.

Trotz hoher Inflation? Ist das nicht ein wenig zu optimistisch?

Ob wir vertrieblich einen Schwung sehen, bleibt tatsächlich abzuwarten. Aber: Die Lebensversicherungsprodukte funktionieren zinsbasiert wieder. Bei einer Inflation wie im Moment kann man Sparen natürlich für jede Kapitalanlage kritisch sehen, da die 7% Inflation ja erst einmal wieder erwirtschaftet werden müssten. Für das laufende Sparen im Kollektiv einer Lebensversicherung gibt es aber schon Argumente: Sie steigen im Kollektiv jetzt ein und profitieren von der Überschussbeteiligung, die ja jetzt schon aus den angelegten Geldern kommt. Und irgendwann wird die Inflation auch wieder unterhalb des Zinsniveaus liegen. Ich bin da sehr optimistisch. Nach einer Umstellungszeit in diesem und im nächsten Jahr sind zinsbasierte Geschäftsmodelle wieder im Rennen.

Run-off ist mit der Abgabe eines großen Lebensversicherungsportfolios der Zurich an Viridium und der Ankündigung der Ergo, ihre Run-off-Plattform zur Marktreife gebracht zu haben, wieder in den Blickpunkt gerückt. Ist die externe Abwicklung von Beständen für die Provinzial ein Thema?

Nein. Wir beobachten das natürlich. Die Geschäftsmodelle können durchaus Sinn machen – sowohl für Abgeber als auch für Anbieter. Für uns ist das aber kein Thema. Wir wollen nicht, dass Kunden woanders anrufen, wenn sie eine Frage haben. Wir haben außerdem das Glück, dass wir durch die Fusion eine sehr gut ausgestattete IT haben durch die Provinzial Rheinland Leben. Wir haben dadurch kein Kostenproblem bei der Verwaltung von Beständen. Ein Eigenkapitalproblem haben wir auch nicht. Die Argumente führen dazu, dass das für uns kein Thema ist.

Nach all den Entwicklungen in den vergangenen Wochen und Monaten: Wie wohl fühlen Sie sich heute noch mit Ihrer Jahresprognose, 2022 die Beitragseinnahmen stabil zu halten und ein Vorsteuerergebnis zwischen 100 und 120 Mill. Euro zu erzielen?

Wir glauben, dass wir in der Schaden- und Unfallversicherung besser abschneiden als der Marktdurchschnitt. Wir haben derzeit ein Wachstum von über 5% und denken, dass sich das bis zum Jahresende fortschreiben könnte. In der Lebensversicherung haben wir eher einen verhaltenen Ausblick, auch weil das vergangene Jahr durch viel Einmalbeitragsgeschäft sehr gut war. Im Konzern in der Summe gehen 2022 die Beitragseinnahmen etwas zurück durch die Lebensversicherung. Die Ergebnisprognose bestätigen wir.

Ist das Wachstum in der Schaden- und Unfallversicherung preis­induziert?

Das ist schwerpunktmäßig preis­induziert, wir erwarten nicht so viele Neuverträge.

Die Digitalstrategie der Provinzial ist von außen nicht ganz einfach zu verstehen. Sie haben die schon lange etablierte S-Direkt, die vor allem Kfz-Geschäft macht, sind aber 2019 und damit erst vergleichsweise spät mit einem Digitalversicherer namens Andsafe gestartet. Was haben Sie da vor? Warum haben Sie nicht die Kooperation mit einem Insurtech gesucht, was ja viele im Markt machen?

Wir wollten nicht einen reinen Onlineversicherer bauen, sondern ein digitales Geschäftsmodell entwickeln. Deshalb ist Andsafe auch nicht nur auf das Erzielen von Umsätzen getrimmt. Die IT ist fast komplett outgesourct und cloudbasiert, es steht ein völlig eigenes Preismodell dahinter mit eigenem Aktuariat. Es ist eine andere Time-to-Market-Geschwindigkeit in der Produktentwicklung. Das wollen wir alles selbst können, damit wir den Wissenstransfer in unsere anderen Gesellschaften selbst organisieren können. Dass wir spät dran waren, ist richtig. Aber vielleicht ist das gar nicht so verkehrt, da wir auf reifere Kooperationspartner ge­troffen sind. Wir machen das zum Beispiel mit Adesso zusammen als IT-Provider und wir können aus deren Bestandsführungssystem viele Er­kenntnisse ziehen. Wir haben außerdem die Sparkassendirektversicherung, einen sehr reifen Onlineversicherer. Und wir haben in Lübeck einen Assekuradeur, die OCC, die auch ein digitales Geschäftsmodell hat. Wir sind im Konzern von den Fähigkeiten jetzt ziemlich gut aufgestellt und haben ein schönes Portfolio.

So viele Digitalmarken unter einem Dach sind aber unübersichtlich. Wird das so bleiben?

Wir werden das nicht parallel so weiterführen, wie wir es bisher in den früheren Eigentümerkonstellationen gemacht haben. Das war aber jedoch nicht unser dringlichstes Thema nach der Fusion. Es liegt jetzt aber ganz oben auf meinem Schreibtisch.

Wie soll das denn verbunden ­werden?

Wir denken gerade darüber nach, wie wir das machen. Es macht natürlich Sinn, zum Beispiel Plattformen wie Check24 und andere, wo And­safe und S-Direkt heute noch getrennt vertreten sind, auf Sicht gemeinsam zu bespielen.

Wird es also am Ende eine digitale Marke geben?

Eigentlich sind wir mit einem Versicherer, der wie die S-Direkt auf die Sparkassen deutet, sehr zufrieden. Andsafe dagegen ist in der Start-up-Welt zu Hause. Dass wir da wirklich eine Marke daraus machen, das sehe ich noch nicht.

Bei S-Direkt haben Sie ja auch mit den rheinischen Sparkassen, der VGH und der Öffentlichen Versicherung Braunschweig noch weitere Anteilseigner mit an Bord. Wird das so bleiben?

Im Moment denken wir auch darüber nach. Aber da ist noch nichts spruchreif. Es gilt: Im Zuge der Fusion wird Vieles neu gedacht.

Das Interview führte

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