Standortwettbewerb

Chemie­industrie im Wettbewerbs­dilemma

Mit dauerhaft hohen Energiekosten verändern sich die Standortfaktoren für die Chemieindustrie dramatisch. Die Karten werden global neu gemischt.

Chemie­industrie im Wettbewerbs­dilemma

Die Chemieindustrie ist wie keine andere Branche in Deutschland von Gasknappheit und steigenden Gaspreisen betroffen. Auf die Hersteller von Kunststoffen, Fasern, Farben oder Reinigungsmitteln entfallen etwa 20% des industriellen Gasverbrauchs hierzulande. Entsprechend ambitioniert sind seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine die Bemühungen des energieintensiven Sektors, den Verbrauch herunterzufahren – auch im nationalen Interesse. Dabei stecken die Unternehmen in der Zwickmühle, weil Erdgas für BASF & Co. nicht nur ein Energieträger ist, sondern ein wichtiger Rohstoff für viele Produkte, der nicht leicht zu ersetzen ist.

Angesichts dieses Szenarios gehört die Chemieindustrie gezwungenermaßen zu den führenden Energiesparern – was eine Drosselung der Kapazitäten mit sich bringt. Besonders energieintensive Anlagen werden stillgelegt, etwa die Produktion von Ammoniak – ein Produkt, das für die Herstellung von Düngemitteln eingesetzt wird. Aber auch die sich generell abschwächende Nachfrage industrieller Kunden hat in fast allen Sparten der Chemie zu Produktionseinschränkungen geführt. Die exorbitant gestiegenen Gaspreise machten den Weiterbetrieb vieler Anlagen unrentabel. Die Kapazitätsauslastung der Branche liegt am Jahresende deutlich unter den Normalwerten.

Auf Energieimport angewiesen

Auch wenn es bislang keinen Gasmangel gibt, keine Firmen abgeschaltet und Erdgas nicht hoheitlich nach Systemrelevanz zugeteilt werden musste – die Situation der Chemieindustrie bleibt mehr als angespannt. Der Branchenverband VCI spricht von einer „dramatischen Lage“. Auch mittelfristig haben sich die Aussichten des drittgrößten Industriezweigs in Deutschland verschlechtert. Die Hersteller müssen davon ausgehen, dass die Preise für Erdgas dauerhaft hoch bleiben und Gas hierzulande deutlich teurer sein wird als in anderen großen Märkten wie den USA oder China. Ein Teil des bisher aus Russland bezogenen Gases wird künftig durch mehr LNG-Einfuhren ersetzt werden. Der Ausbau von erneuerbarer Energie braucht Zeit und kann den hohen Gasbedarf der Chemie auf Sicht nicht kompensieren.

Eine schnelle Umstellung der Chemieproduktion auf alternative Energieträger ist oft nicht möglich. „Deutschland wird Energieimportland bleiben und kein autarkes Land werden“, sagt Marie-Luise Wolff, Präsidentin des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). Auch beim Wasserstoff, dem ersehnten Energieträger der Zukunft, werde Deutschland nicht allein die Versorgung des Landes sichern können.

Angesichts des dramatischen Energiepreisszenarios gehen Marktbeobachter da­von aus, dass letztlich ein Teil der Produktion, der in der aktuellen Gaskrise in Deutschland verloren gegangen ist, nicht mehr zurückkehren wird. Die deutsche Chemieindustrie steckt angesichts des Energiekostennachteils gegenüber anderen Ländern in einem Wettbewerbsdilemma.

Die oft kapitalintensive Produktion kann nicht über Nacht verlagert werden, doch es liegt nahe, dass in Investitionsentscheidungen künftig Regionen mit günstigeren Energiepreisen bevorzugt werden. Speziell die USA stehen hier im Fokus, zumal auch das milliardenschwere Hilfsprogramm im Zuge des „Inflation Reduction Act“ enorme Investitionsanreize setzt, die kein verantwortlich handelnder Vorstand links liegen lassen kann. Die Angst vor Deindustrialisierung macht hierzulande die Runde, und es wird entscheidend sein, was politisch getan wird, um den Standort Deutschland und Europa zu retten. Es ist kein Thema für die Chemie allein, sondern für viele Abnehmerbranchen, denn Chemieprodukte stehen am Anfang vieler Wertschöpfungsketten.

„Mittelfristig wird es für die deutsche Chemie und andere energieintensive Branchen sicherlich schwieriger werden, wettbewerbsfähig zu bleiben“, fasste es Martin Bastian zusammen, Head of Chemicals Europe der Investmentbank Houlihan Lokey. Der Branchenexperte weist auf einige Dinge hin, die aus seiner Sicht in Deutschland versäumt wurden –  nicht nur von der Politik, auch von der Wirtschaft. Viele Unternehmen hätten sich Gedanken gemacht, in erneuerbare und alternative Energiequellen zu investieren, „allerdings wurde – mangels Investitionsanreizen und aus kurzfristigem Ergebnisdruck –  (zu) wenig umgesetzt“, gibt Bastian zu bedenken. Wenige Firmen hätten sich Gedanken darüber gemacht, was es heiße, in einem anderen Energiepreisumfeld agieren zu müssen. „Da lagen nicht allzu viele Pläne in den Schubladen, vieles wird jetzt aus gegebenem Anlass erst kurzfristig angestoßen“, meint Bastian. Der Switch zu alternativen Energiequellen hätte seiner Einschätzung nach schon vor vielen Jahren stärker forciert werden können. „Unternehmen hätten die Energiedividende in erneuerbare Energie statt in Aktionärsdividenden investieren können“, so seine Kritik.

Konsolidierungsdruck

Hohe Energiepreise sind für die Chemie nicht die einzigen kritischen Themen im internationalen Wettbewerb. Auch die Um­setzung der europäischen Green-Deal-Regularien in konkrete Dekarbonisierungsstrategien der Unternehmen sei zunächst mit hohen Kosten verbunden. „Millionenbeträge sind zu investieren, ohne dass es einen unmittelbaren Return on Investment gibt“, sagt Bastian und ergänzt:  „Das können kleine bis mittelgroße Unternehmen nicht so leicht stemmen.“ Das – in Kombination mit den Folgen der Energiekrise – werde Re­strukturierungen und Konsolidierung hervorrufen, „ich erwarte kurz- bis mittelfristig einen Ausleseprozess“.

In die Diskussion über die sinkende Wettbewerbsfähigkeit in Europa spielt die Frage hinein, wie sich die deutsche Industrie mit Blick auf Lieferketten und geopolitische Risiken künftig international aufstellen soll. Auch in der Diversifikation von Risiken haben die Standortbedingungen eine zentrale Rolle, weil sich strukturelle Anpassungen am Ende rechnen müssen. „Was spricht eigentlich noch für Investitionen in Europa?“, fragt Martin Brudermüller, Chef des Chemiekonzerns BASF, in einem Interview – und verweist auf Energiekosten, „überbordende“ Regulierung im Rahmen des Green Deal, aber auch auf nur noch schwaches Wachstum in Europa schon seit einer Dekade. Der Manager beklagt, dass gegenwärtig völlig vernachlässigt werde, wie die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie signifikant verbessert werden könne. BASF hat in der Region bereits ein umfassendes Sparprogramm eingeleitet.

In der gegenwärtigen Debatte über deutsche und europäische Abhängigkeiten steht für die Chemieindustrie speziell das Ge­schäft mit China und Investitionen im Reich der Mitte im Fokus öffentlicher Kritik. BASF, die gerade dabei ist, für 10 Mrd. Euro einen zweiten großen integrierten Verbund-Standort nach dem Vorbild des Stammwerks Ludwigshafen aufzubauen, wird nicht müde, ihr China-Engagement zu verteidigen. Aber auch andere Vertreter der Industrie heben hervor, dass China unterdessen in der Chemie fast die Hälfte des Weltmarktes ausmache und kaum ignoriert werden könne.

Bei allen geopolitischen Risiken und bitteren Erfahrungen mit Russland werde China ein wichtiger Markt für die deutsche Indus­trie bleiben, heißt es auch in anderen Branchen. Die deutsche Wirtschaft müsse ihre Resilienz erhöhen, dürfe nicht alle Eier in einen Korb legen, sollte aber nicht gezwungen werden, auf Geschäft mit China zu verzichten, ist vielerorts zu hören. Diese Vorstellung geht konform mit der bislang in Eckpunkten bekannten neuen China-Strategie der Bundesregierung, wonach die Abhängigkeit reduziert werden soll, ohne den Handel allzu sehr einzuschränken. Dabei überwiegt bei aller Risikoabwägung die Einschätzung, dass der Fall des Falles die Welt auf den Kopf stellen würde. „Falls China isoliert werden würde, zum Beispiel wegen eines Angriffs auf Taiwan, bekommen wir weltwirtschaftlich ein ganz anderes Szenario – in einer Dimension, die ich mir nicht ausmalen möchte“, sagte BASF-Finanzchef Hans-Ulrich Engel jüngst in einem Interview.

Im Fokus der Märkte

Der Kapitalmarkt macht sich ein eigenes Bild über China. „Die Chemieindustrie kann auf einen ihrer weltweit wichtigsten Märkte nicht verzichten“, meint auch Branchenexperte Bastian. Die Konzerne sollten sich klarmachen, welche Rolle sie dort langfristig spielen wollten, könnten sich dem Markt aber nicht verschließen –  dafür sei er zu groß. „Unternehmen müssen sich mit einem Worst-Case-Szenario auseinandersetzen, also zum Beispiel die Folgen prüfen, falls Produktionsanlagen in China im Extremfall zwangsverstaatlicht oder mit Sanktionen belegt werden würden“, mahnt Bastian. Produktions- und Wertschöpfungsketten seien dahingehend zu analysieren, ob aus China heraus die USA oder Europa beliefert würden oder aber der lokale Markt.

Aktionäre und Unternehmen mit überproportional hohem China-Exposure würden im Fall eines größeren Konflikts im Vergleich zu einer Nicht-Konflikt-Situation sicherlich Verluste erleiden, ergänzt Bastian. Solche möglichen Verluste würden in der Zukunft noch stärker an den Aktienmärkten analysiert und eingepreist. „Natürlich kann man nicht gänzlich ausschließen, dass sich China komplett abriegelt, aber mit welcher Wahrscheinlichkeit soll man das erwarten? Das kann wohl momentan keiner beantworten“, so sein Fazit.

Von Sabine Wadewitz, Frankfurt

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