Olgerd Eichler

„Bewertungen spielen kaum noch eine Rolle“

Der Portfoliomanager für europäische Aktien bei Mainfirst ist angesichts der Niedrigzinsen bei Aktienbewertungen großzügiger geworden. Beim Thema Nachhaltigkeit ist Olgerd Eichler jedoch zurückhaltend.

„Bewertungen spielen kaum noch eine Rolle“

Wolf Brandes.

Herr Eichler, als Manager eines europäischen Aktienfonds investieren Sie in Europa. Die Performance wurde aber in den USA gemacht. Bedauern Sie es, nicht mehr, wie einst bei Union Investment, einen Nordamerikafonds zu betreuen?

Nein – überhaupt nicht. Ich bin froh, einen europäischen Aktienfonds zu managen. Die Dynamik des Gewinnwachstums ist derzeit bei europäischen Unternehmen deutlich größer als bei US-Unternehmen – und für die kommenden Quartale ist keine Trendumkehr zu erkennen. Ich muss aber neidlos anerkennen, dass die Musik vor allem bei Tech-Werten in den letzten 20 Jahren in den USA gespielt hat. Und ich habe auch als Value-Investor durchaus ein Interesse an Tech-Unternehmen, bei denen man natürlich sehr genau hinschauen muss. Es ist aber nun mal so, dass es Google halt nicht in Europa gibt. Aber vielleicht erleben wir eine Renaissance von Value – und dann sollte Europa die USA outperformen.

Was meinen Sie mit genauer hinschauen?

Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus meiner Zeit als US-Fondsmanager. Damals war ich begeistert für Mastercard, während andere Investoren ein vermeintliches Bankrisiko gesehen haben. Doch das Unternehmen war und ist eine Abwicklungsfirma, also ein Datenunternehmen mit einem damals riesigen Wachstumspotenzial. Der Trend hin zu Plastikgeld war entscheidend, und man musste es halt als Investor richtig einschätzen.

Was sagen mir Geschichten von vor mehr als 15 Jahren?

Es kommt damals wie heute darauf an, das Geschäftsmodell zu erkennen. Wenn die Story und die Zahlen stimmen, dann gehe ich auch als Value-Investor in Unternehmen rein, die untypisch für meinen Stil sind. Ein anderes Beispiel ist die Deutsche Börse, auch schon länger her. Die Börse wurde von vielen wie eine Investmentbank behandelt und bewertet, und dabei hat man ignoriert, dass sie auch Daten verkauft. Der Markt ist in seiner Bewertung dem Geschäftsmodell nicht gerecht geworden. Und das sind Fälle, bei denen man als Investor genau hinschauen sollte.

Hat die Coronakrise an Ihrer Aktienanalyse etwas geändert?

Es gab auch längere Phasen, in denen wir bis zu 80% in Large Caps investiert waren. Etwa in der Zeit, als die Eurozone gewackelt hat. Das zeigt, dass es aus unserer Sicht Zeiten geben kann, in denen große Unternehmen besser sind. Wir lassen uns ungern in eine Schublade stecken, sondern gehen relativ pragmatisch vor. Und wir investieren auch in Werte, die uns vielleicht vom Stil her nicht so liegen. Richtig ist aber, dass die Coronakrise für uns kein Grund war, von Small und Mid Caps abzurücken. Wir haben erneut die Beobachtung gemacht, dass die kleineren und mittleren Unternehmen in der Krise besser zurechtkommen.

Das trauen Sie den Konzernen also nicht zu?

Wir haben ganz klar eine Präferenz für kleinere Unternehmen, die agiler und dynamischer sind. Bei großen Unternehmen wie Telekom, Siemens und VW geht es nicht immer und ausschließlich um das Wohl der Firma, da gibt es Silodenken oder es geht darum, dass Leute Karriere machen wollen. Es ist immer ein Vorteil, wenn Entscheidungen auch von Eigentümern getroffen werden. Zudem ist es auch wissenschaftlich belegt, dass mittlere und kleine Unternehmen attraktiver sind. Die Stärke von kleineren Unternehmen ist nicht nur, dass oft die Gründerfamilie an Bord ist. Sie sind hungrig und ehrgeizig, während die großen Unternehmen oft nur noch ihre Marktanteile verteidigen.

Zurück zur Coronakrise und den Folgen. Haben diese extremen Verwerfungen Ihren Ansatz wirklich nicht tangiert?

Die Welt ist eine andere geworden, wir haben keinen normalen Markt mehr. Die Entscheidungen der Zentralbanken, die Zinsen abzuschaffen, haben alles verändert. Es gibt kaum noch ein Industrieland mit positiven Zinsen – und die 1,4%, die es zuletzt für US-Staatsanleihen gab, sind auch keine Zinsen mehr, wenn man an die Inflation denkt. Mit diesen geldpolitischen Maßnahmen kam es zu einer riesigen Schwemme an Kapital. Das hat zu der perversen Situation geführt, dass zukünftige Gewinne mehr wert sind als aktuelle Gewinne. Das ist einfach absurd, denn der zukünftige Gewinn ist ungewiss. Die Folge: Bewertungen spielen heute kaum noch eine Rolle. Ob Microsoft mit einem 32er oder 39er KGV bewertet ist, ist relativ unwichtig.

Da würden viele widersprechen.

Na ja, viele sind aufgewachsen und geprägt in einer Welt der KGVs. Sicherlich existiert das Denken noch, aber es hat an Stellenwert verloren. Das war früher für mich als Value-Investor das A und O. Heute muss ich Unternehmen anders aussuchen.

Worauf achten Sie besonders?

Es ist die Qualität des Unternehmens, die sehr wichtig ist, ein verlässliches Management mit einem guten Track Record. Wir fragen uns auch immer, wie die Bilanzqualität aussieht. Großzügiger sind wir aber bei der Frage, ob Unternehmen eine Dividende ausschütten. Auch beim Preis sind wir heutzutage etwas generöser und warten mit einem Verkauf, auch wenn die Aktie schon teuer geworden ist.

Haben Sie die Krise für Ihr Portfolio zu Veränderung benutzt?

Relativ wenig. Krise ist nicht gleich Krise aus Sicht eines Investors. Im Gegensatz zur Finanzmarktkrise 2008 erleben wir jetzt eine Gesundheitskrise und keine wirtschaftliche Krise. Für mich war schnell klar, dass sich das Problem mit Corona lösen lassen wird. Demgegenüber dauert eine konjunkturell induzierte Wirtschaftskrise viel länger. Wenn die Unternehmen wirklich auf die Bremse gehen, vergehen Jahre, bis sich die Wirtschaft gefangen hat. Ein richtiger ökonomischer Abschwung ist schwieriger am Kapitalmarkt zu bewältigen als ein Schock in Form einer Gesundheitskrise.

Also Business as usual?

Das nun auch wieder nicht. Zum einen, weil man natürlich nicht vergessen darf, dass diese Schocks leider mit unfassbar viel menschlichem Leid und Todesopfern verbunden waren und sind. Und zum anderen, weil wir mit dem Fonds im März 2020 den schlimmsten Monat überhaupt erlebt haben, mit einer Underperformance von 10%, und dabei hatte der Vergleichsindex schon gut 20% verloren. Das war sehr deprimierend, dramatisch und überhaupt keine schöne Zeit. Dennoch konnte der Mainfirst Top European Ideas Fund das Jahr 2020 mit einer Outperformance von über 7% abschließen. Im Gegensatz zu 2008 hatte ich bei diesem Crash keine Angst, dass Banken fallen würden.

Das klingt alles entspannt, trotz dramatischer Folgen durch die Lockdowns.

Es ist ein Unterschied, ob die Menschen nicht konsumieren wollen, wie in einer echten Wirtschaftskrise, oder ob sie nicht können, weil sie nicht raus dürfen, weil sie nicht reisen können, weil Geschäfte zeitweise ge­schlossen sind. Der Schock sitzt zwar tief und tut auch sehr weh, aber er dauert in der Regel nicht so lange an. Eine Rezession hingegen ist eher zu vergleichen mit einem Krebsgeschwür, das sich durch die Wirtschaft frisst und das so schnell nicht vorbeigeht.

In dem Portfolio finden sich viele deutsche Namen aus der zweiten Reihe. Einer Ihrer Favoriten ist seit Jahren Sixt. Warum?

Hervorzuheben ist die Expansion von Sixt in Europa und jetzt auch in den USA mit eigenen Stationen. Die USA sind mit erwarteten 30 Mrd. Dollar Marktvolumen extrem wichtig, man kommt als erfolgreicher Autovermieter um den Markt nicht herum. Positiv auch, dass sich Sixt auf das weniger preissensible Premiumsegment fokussiert hat. Und anders als andere will das Unternehmen mit der Vermietung Geld verdienen und nicht mit irgendwelchen Nebengeschäften. Das finden wir gut und auch, dass Sixt Verkaufsgarantien für die gebrauchten Fahrzeuge hat. Das hat zwar seinen Preis, aber es zeigt, dass Sixt nicht mit den Gebrauchtwagenpreisen spekuliert. Die zocken nicht mit Autos und gewinnen Sicherheit für die Bilanzen.

Sie schwärmen von einer Firma, die eine fürchterliche Absatzkrise hinter sich hat.

Das stimmt, Sixt ist sehr durchgeschüttelt worden, mit fast 70% Umsatzeinbruch im zweiten Quartal 2020. Das waren sehr schlimme Zeiten, und da hat in Pullach der Puls bei den Vorständen sicher nie ge­kannte Höhen erreicht. Doch im dritten Quartal 2021 haben sie eine Rekordmarge berichtet.

Ein anderer Favorit ist Hella. Was sagen Sie zur Übernahme?

Ein brillantes Unternehmen, das wir als Investoren jetzt leider durch den Verkauf verlieren. Die Firma hat in den vergangenen Jahren Geschäftsfelder aufgebaut wie zum Beispiel das autonome Fahren, für das extrem viele Sensoren und Kameras ge­braucht werden. Ein Viertel des heutigen Geschäfts existierte vor 15 Jahren überhaupt noch nicht. Die haben 1000 Programmierer und geben knapp 10% vom Umsatz für Forschung und Entwicklung aus, während andere weit darunterliegen. Wäre Hella nicht dem Automobilsektor, sondern dem Technologiesektor zugeordnet, könnte die Aktie eine doppelt so hohe Bewertung erreichen.

Freuen Sie sich nicht über die Prämien nach dem Motto, alles richtig gemacht?

Mit Hella wurde ein sehr gut geführtes Unternehmen geschluckt. Die Familie hat entschieden, für 60 Euro zu verkaufen, kein hoher Preis. Damit hat der Eigentümer auf das Umfeld und die Belegschaft Rücksicht genommen und mit Faurecia Sonderbedingungen ausgehandelt.

Standortsicherung ist doch auch ein Wert, oder?

Ein so gutes Unternehmen sollte mit einer vernünftigen Prämie und nicht unter Preis verkauft werden. Als Anleger geht es darum, das Investment zu mehren, und es ist nicht meine Aufgabe, sicherzustellen, dass eine Fabrik eine Garantie bekommt. Ein Übernahmeangebot von mehr als 70 Euro wäre aus Investorensicht für ein Unternehmen mit entsprechendem Potenzial angemessen gewesen. Natürlich freue ich mich auch über die Prämie. Ohne die Übernahme läge der Kurs nicht bei 60 Euro, sondern vielleicht bei 55 Euro. Aber auf lange Sicht bleibt das Gefühl, dass zu einem nicht angemessenen Preis verkauft wurde.

Diversität und Mitarbeiter gehören in das Feld der Nachhaltigkeit. Welche Rolle spielt ESG?

Ich bin seit 15 Jahren ein echter Verfechter in Sachen Governance. Ganz wichtig zur Beurteilung der Unternehmensführung ist das Treffen mit den Vorständen. Wir schauen uns zum Beispiel die Vergütungsprogramme sehr genau an und legen auch mal den Finger in die Wunde.

So weit der Faktor G. Wie sieht es mit dem S aus?

Governance und Umweltthemen sind für uns sicherlich wichtiger. Das liegt auch daran, dass soziale Faktoren oft schwieriger zu messen sind. Ich bin aber auch nicht von allen Kriterien überzeugt, etwa von einer Frauenquote im Vorstand. Letztlich sollten die Personen mit den besten Qualifikationen für die jeweilige Aufgabe ausgewählt werden – unabhängig zum Beispiel von Geschlecht, Alter oder Herkunft. Das ist für mich als Investor letztlich entscheidend. Dabei darf natürlich niemand be­nachteiligt werden. Andere soziale Themen wie Arbeitsschutz oder dass der Mindestlohn gezahlt wird, sind für mich ohnehin selbstverständlich.

Welche Rolle spielen für Sie ESG-Ratings?

ESG-Bewertungen sind wichtig. Zugleich ist das Thema mit Herausforderungen verbunden. Denn ein Fünftel der Portfoliounternehmen hat keinen ESG-Score – und da wir kein gesondertes ESG-Team haben, beschäftigen sich bei uns alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Team im Rahmen der Unternehmensanalyse auch mit der Nachhaltigkeitsprüfung der Unternehmen.

Weil die Ratingagenturen viele kleinere Unternehmen nicht abdecken?

Das ist ein Problem, und damit muss man leben. Neben dem ESG-Score arbeiten wir mit Ausschlusskriterien und wollen soziale Standards im Investment umsetzen. Wir besitzen zum Beispiel seit Jahren keine Tabakunternehmen, auch wenn das gesunde und günstig bewertete Firmen sind. Die haben starke Marken, ein Gewinnwachstum und erzielen eine Vorsteuermarge von 30% mit einem legalen Produkt. Weil ich aber die Auffassung habe, dass Rauchen schädlich ist, fasse ich die entsprechenden Aktien auch bei einem 5er KGV nicht an.

Zum Schluss die Umwelt, was halten Sie von Firmen aus dem Segment der erneuerbaren Energien?

Wenn eine Firma eine positive ESG-Bewertung vorweisen kann, dann ist die Aktie gleich 10 oder 20% teurer im Vergleich zu einem Unternehmen, das dasselbe herstellt, aber kein grünes Siegel hat. Die ESG-Prämie ist Realität, die Frage ist, inwieweit man da mitgeht. Ein Beispiel für ein mittlerweile unvorstellbar teures Unternehmen ist Vestas. Zu dem aktuellen Preis würde ich die Aktie nicht kaufen, ich weigere mich, mit der Herde mitzulaufen. Lieber lasse ich als Investor mal eine Chance vorüberziehen. ESG hat eine hohe Relevanz, und wir werden diesen Bereich weiter ausbauen, aber es wird für uns nicht das Thema Nummer 1 werden. Wir gehen pragmatisch vor und wenden dennoch schon heute bis zu ein Drittel unserer Zeit für ESG-Themen auf. Auch in jedem Kundengespräch nimmt es einen großen Teil ein.

Das Interview führte

BZ+
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