Aktienmärkte

„Die guten Zeiten sind definitiv vorbei“

Harald Preißler befürchtet, dass die gewohnten guten Zeiten an den Aktienmärkten vorbei sind. Er begründet das u.a. mit der höheren Inflation und einem schwächeren Unternehmensgewinnwachstum.

„Die guten Zeiten sind definitiv vorbei“

Christopher Kalbhenn.

Herr Preißler, die Aktienmärkte haben die Anleger im zurückliegenden Jahrzehnt mit hohen Erträgen verwöhnt. Auf was können sie sich in den kommenden Jahren einstellen?

Die guten Zeiten sind definitiv vorbei. Wie an vielen anderen Stellen auch erleben wir an den Finanzmärkten eine Zeitenwende, und das hat sehr viel mit der nachhaltig verankerten Inflation zu tun. Die Inflation galt jahrelang als klinisch tot. Das verschaffte den Notenbanken die Möglichkeit, eine ultralockere Geldpolitik zu betreiben und sich auf Feldern wie der Euro-Rettung und Stützungsmaßnahmen während der Pandemie zu engagieren, die nicht wirklich Kern ihrer geldpolitischen Aufgaben sind. Aber wenn die Inflation tot zu sein scheint, kann man eben seinen geldpolitischen Auftrag weiter fassen. In der Folge konnten sich die Finanzmärkte immer, wenn es schwierig wurde, darauf verlassen, dass die Notenbanken einspringen und das Problem mit Liquidität im Überfluss zudecken. Genau das ist in der Zukunft nicht mehr möglich, weil wir eine nachhaltig hohe Inflation haben.

Was macht die Inflation so nachhaltig hoch?

Es gibt dafür eine Reihe von Gründen. Dazu zählt der zunehmende Personalmangel, durch den die Löhne in die Höhe schießen. Ferner steigen durch die deutlich höheren Zinsen die Finanzierungskosten und die Deglobalisierung verteuert die Produktion, weil die Unternehmen künftig nicht mehr am günstigsten Standort produzieren können, sondern ihre Fertigungslinien mit Blick auf die Lieferkettensicherheit diversifizieren müssen. Darüber hinaus werden die Rohstoffpreise weiter steigen, nicht zuletzt aufgrund des enormen Bedarfs, den es infolge der Energiewende gibt. All dies treibt die Inflation, aber auch die Kosten für die Unternehmen, und zwar überproportional. Vor diesem Hintergrund werden sich die Inflationsraten in Deutschland und in der Eurozone oberhalb von 3% einpendeln.

Was bedeutet das für die Profitabilität der Unternehmen?

Die starken Kostensteigerungen wären für die Unternehmen gut abzufedern, wenn sie in der Lage wären, ihre Margen über eine ebenfalls steigende Produktivität hoch zu halten oder sogar auszuweiten. Aber eben das wird nicht passieren. Die Produktivität ist eine relativ träge Größe, denn sie ist das Ergebnis von Investitionen in Sachkapital, also in Produktionsprozesse, neue Produkte und Innovationen aller Art. Im Durchschnitt dauert es vier Jahre, bis sich Sachinvestitionen in höherer Produktivität niederschlagen. Die meisten Unternehmen in den Industriestaaten haben ihre Investitionen in den zurückliegenden Jahren aber zurückgefahren. Im Jahr 2015 betrug das Investitionswachstum auf globaler Ebene noch 9,5%, Ende 2022 waren es nur noch 3%. Das ist erstaunlich, weil die Zinsen außergewöhnlich tief waren. Die günstigen Finanzierungskosten wurden von den Unternehmen zwar genutzt, aber eben nicht für Sachinvestitionen, sondern vielmehr für den Rückkauf von Aktien und Ausschüttungen von Dividenden. Das ist der rationale Ausdruck einer Bilanzkosmetik, die zulasten der langfristigen Produktivität ging. Produktivitätsgewinne sind aber die Basis für das künftige Gewinnwachstum, und diese Basis fehlt nun.

Müssen sich die Anleger also auf eine enttäuschende Entwicklung der Unternehmensgewinne einstellen?

Das Gewinnwachstum wird sich in den nächsten Jahren abschwächen. Tatsächlich hat dieser Prozess bereits Mitte des zurückliegenden Jahrzehnts begonnen. In den Vereinigten Staaten lag das Gewinnwachstum im Durchschnitt der vergangenen fast 50 Jahre bei 7,5% jährlich, in den vergangenen zehn Jahren wurde es durch die rückläufigen Produktivitätsfortschritte unter 5% gedrückt. Aufgrund des Zeitraums, der zwischen Investitionsankündigungen und den Auswirkungen der Investitionen auf die Gewinne vergeht, ist nun von einem langen Zeitfenster auszugehen, in dem sich das Gewinnwachstum weiter abschwächen wird.

Wie sieht in diesem Zusammenhang die Bewertungssituation aus?

In den aktuellen Bewertungen der Aktienmärkte sind sehr hohe Ge­winnwachstumsraten antizipiert. In den Vereinigten Staaten sind Raten von zwischen 7 und 8% in den aktuellen Erwartungen enthalten und das dürfte deutlich verfehlt werden. Das Shiller-KGV stieg in den 1980er und 1990er Jahren aus dem Bereich um 18 auf neue Mittelwerte um 25. Treiber des Ausbruchs nach oben waren die Babyboomer, die für ihre Altersvorsorge Aktien gekauft haben, sowie die rückläufige Inflation und sinkende Zinsen. Jetzt aber gehen die Babyboomer in Rente, und die Zinsen steigen. Daher kann man davon ausgehen, dass sich die hohen Bewertungen wieder auf die alten Werte von ungefähr 18 zurückbewegen werden. Wenn das der Fall ist und man hierfür einen Anpassungszeitraum von 10 bis 15 Jahren veranschlagt, dann ist das Gewinnwachstum der nächsten 15 Jahre bereits vollständig in den aktuellen Kursen enthalten.

Welche Schlussfolgerungen ergeben sich angesichts dieser eher ernüchternd wirkenden Ausgangslage für die Investoren?

Einer der Hauptfaktoren, der die Aktienmärkte belastet, sind die zuletzt deutlich gestiegenen Zinsen, die gleichzeitig Anleihen wieder attraktiv gemacht haben. Nach der Niedrig- und Negativzinsphase ist diese Assetklasse wieder interessant, und das bei im Investment-Grade-Bereich überschaubaren Risiken. Für den High-Yield-Bereich sind wir dagegen eher skeptisch. Wenn die Zinsen hoch bleiben, besteht das Risiko, dass Unternehmen mit schlechterer Bonität in Schwierigkeiten geraten. Die Turbulenzen im Bankenbereich dürften ein Vorgeschmack auf das sein, was in den nächsten Jahren auch Industrieunternehmen und Dienstleistern droht. Gerade die Unternehmen mit den schlechtesten Ratings haben sich am aggressivsten verschuldet und sich dabei auf kurze Laufzeiten fokussiert in der Hoffnung, sich bei weiterhin niedrigen Zinsen erneut günstig refinanzieren zu können. Dieses Kalkül geht wegen der stark gestiegenen Zinsen aber nicht mehr auf, so dass es ein Risiko zunehmender Ausfälle gibt.

Welche Möglichkeiten bieten angesichts des ernüchternden Ausblicks Aktien in den nächsten Jahren denn überhaupt noch?

Am Aktienmarkt bieten sich in den nächsten Jahren durchaus gute Chancen, aber man muss künftig genauer hinsehen. Die Einzeltitelselektion wird wichtiger. Es gibt Unternehmen, die durch hohe Produktivität herausragen, und die gilt es ausfindig zu machen. Sie werden wahrscheinlich vor allem im Value-Segment zu finden sein. Der Bereich Infrastruktur dürfte interessant bleiben, weil er von den staatlichen Programmen wie EU Fit for 55, Recovery and Resilience Facility sowie dem Inflation Reduction Act profitiert. Im Technologiebereich sind die Plattformstrategien der Zukunft interessant, die ebenfalls über ein hohes Wachstumspotenzial verfügen. Das Thema lässt sich nicht pauschal über den Growth-Begriff abdecken, denn auch hier kommt es auf das einzelne Geschäftsmodell an. Die Auswahl guter Einzeltitel wird auf jeden Fall anspruchsvoller werden.

Ist somit die Zeit des passiven Investierens vorbei?

In den Jahren seit der Finanzkrise konnte man einfach den breiten Markt kaufen und übergeordnet steigende Kurszuwächse erzielen, aber das ist jetzt in der Tat vorbei. Passiv orientierte Investoren stehen daher vor schweren Zeiten, das gilt auch für den Anleihebereich.

Was bedeutet das genau?

Viele institutionelle Investoren haben in den zurückliegenden Jahren auch im Anleihebereich verstärkt passiv angelegt. So haben viele Anleger die durchschnittlichen Laufzeiten in ihren Portfolios parallel zur Emissionstätigkeit der Unternehmen deutlich verlängert und sind in der Kreditqualität immer weiter nach unten gegangen. Diese Strategie hat im Jahr 2022 zu massiven Kursverlusten geführt. Künftig wird das aktive Laufzeiten-Management wieder deutlich an Bedeutung gewinnen.

Das Interview führte