Brasilien

Der alte neue Präsident

Zum neuen Jahr übernimmt in Brasilien mit Lula eine neue Regierung. Auf sie warten Mammutaufgaben – mit wenig Rückhalt.

Der alte neue Präsident

Zu Beginn wird groß gefeiert. Am Neujahrstag werden Brasiliens Linke, Südamerikas Progressive und auch einige europäische Gäste wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dabei sein, wenn Brasilien „zur Demokratie zurückkehrt“. Genau 20 Jahre nachdem er erstmals die grün-gelbe Amtsschärpe übergestreift bekam, wird Luiz Inácio Lula da Silva zum dritten Mal Präsident des fünftgrößten Landes der Welt. Aber er und sein Land müssen sich darauf einstellen, dass die Feierstimmung nicht lang anhalten wird.

Denn mit 77 Jahren übernimmt Lula ein anderes Land als 2003. Er muss eine tief gespaltene Nation einen, Haushaltslöcher stopfen und eine Reihe delikater Wahlversprechen einlösen. Etwa die Rückkehr zu schärferen Waffengesetzen und den staatlichen Schutz des Amazonas-Urwaldes.

Holpriger Neuanfang

Um diese Pläne ohne eigene parlamentarische Mehrheit durchzusetzen, wird er sich im Volk deutlicheren Rückhalt verschaffen müssen als noch am Wahlabend. Ende Oktober gewann er mit 50,9% der Stimmen die knappste Wahl in der Landesgeschichte. Und er muss einberechnen, dass ein erheblicher Teil seines Volkes – vor allem in den produktiven Landesteilen – ihn weiter für einen Straftäter hält. Die Aufhebung seiner Korruptionsverurteilung durch den Obersten Gerichtshof sieht mindestens ein Viertel der Bevölkerung als Betrug. Tausende Anhänger des Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro kampieren seit Wochen vor Kasernen im ganzen Land und fordern, dass die Militärs Lulas Amtsübernahme verhindern. Am ersten Weihnachtsfeiertag nahm die Polizei einen Bolsonaro-Fanatiker fest, der eine Bombe in einem Tanklastwagen explodieren lassen wollte, um Chaos zu säen und das Militär zum Eingreifen zu bewegen, wie der Festgenommene den Ermittlern erklärte. Die Regierung muss damit rechnen, dass Gewalttaten folgen werden, vor allem, wenn der versprochene Neuanfang holprig verlaufen sollte.

Viele Ökonomen befürchten das. Während seiner ersten Amtszeit konnte Lula von einem weltweiten Rohstoffboom profitieren, was erfolgreiche Sozialprogramme ebenso finanzierte wie eine unternehmensfreundliche Politik. Aber nun – nach einer für den Fiskus extrem belastenden Wahlkampagne – fehlt es einerseits an Einnahmen. Und auch die Wachstumschancen sind sehr begrenzt. Das liegt vor allem am enormen Leitzins von 13,75%, der Kreditaufnahmen und Investitionen deutlich erschwert. Nachdem im Vorjahr die Inflation massiv anzog, folgte die Zentralbank mit einer Serie von deutlichen Zinsschritten. Das werde sich auf den Konsum auswirken, sagen Ökonomen, auch weil die Reduktionen der Steuern auf Treibstoffe – ein klassisches Wahlgeschenk der Regierung Bolsonaro – zum Jahresende auslaufen. Eine Fortsetzung dieses Programmes hätte die Verschuldung des Landes weiter angetrieben, die sowieso bereits im kritischen Bereich liegt.

Die Beratungsfirma Terra hat errechnet, dass die Bruttoverschuldung von 76,5% des BIP im Jahr 2022 auf 82,3% im Jahr 2023 steigen wird, auch wenn die Steuersenkungen zurückgenommen werden. Sollte das nicht passieren, werde das Defizit noch deutlicher steigen. Die scheidende Regierung hat ihre offizielle Wachstumsprognose für 2023 von 2,5% auf 2,1% gesenkt. Aber auch das halten private Experten für überzogen. Eine jüngst publizierte Umfrage erwartet nur +0,8%. Neben den hohen Zinsen sei eine globale Verlangsamung ebenso einzuberechnen wie das Nachlassen des Service-Booms nach der Pandemie, der im Vorjahr deutlich geholfen hat.

Der Kampf gegen die Armut war Lulas wichtigstes Wahlkampfversprechen. Um es einzulösen, will er die seit 2017 in der Verfassung festgeschriebenen Ausgabenobergrenzen im Budget lockern. Dafür bekam er nun vom Obersten Gerichtshof grünes Licht. Damit die Regierung weiterhin die von Bolsonaro im Wahlkampf verdreifachte Sozialhilfe an die ärmsten 20 Millionen Brasilianer auszahlen kann, darf die neue Regierung den Deckel missachten. Aber diese Erlaubnis gilt nur für 2023. Das höchste Gericht verbot zudem eine Praxis, die es seit 2020 den Abgeordneten ermöglichte, Sondermittel ohne großes Aufhebens in ihre Wahlkreise zu verschieben, angeblich für Investitionen. Die NGO Transparency International bezeichnete diese Praxis als hochgradig korrupt. Das Ende dieser Geldflüsse verspricht der Regierung mehr eigene Mittel – aber auch weniger Freunde im Parlament.

Und das ist ein Problem, denn in beiden Kammern fehlt es Lulas Linken deutlich an Mehrheiten. Darum musste der ehemalige Gewerkschaftsboss eine Machtbasis aus Kräften konstruieren, deren weltanschauliche Basis dramatisch divergiert. Lula musste bis an die Grenzen seines legendären Verhandlungsgeschickes gehen, um ein Kabinett bilden zu können, das partikuläre Machtinteressen ebenso reflektiert wie ideologische und regionale Faktoren.

Politischer Regenbogen

Tatsächlich sind wenige Tage vor der Amtseinführung noch immer nicht alle Ministerposten vergeben. Das liegt auch daran, dass Lula das ohnehin schon umfangreiche Kabinett noch deutlich erweitert hat. Nun sollen nicht weniger als 37 Ministerien die Staatsverwaltung übernehmen. Um alle Kräfte seines politischen Regenbogens einzubinden, hat er mehrere Staatssekretariate zu Ministerien aufgewertet wie etwa jenes für indigene Angelegenheiten. Die meisten neuen Jobs gibt es im ökonomischen Sektor. Das Superministerium für Wirtschaft und Finanzen wurde wieder zerlegt. Nun werden drei ehemalige Präsidentschaftsbewerber zentrale Bereiche leiten – und womöglich diese Funktionen als Sprungbrett für die nächste Präsidentschaftsperiode ab 2027 nutzen wollen. Fernando Haddad, der 2018 gegen Bolsonaro unterlegene PT-Intimus von Lula, wird Finanzminister. Ins Wirtschaftsministerium bestellte Lula seinen Vizepräsidenten. Geraldo Alckmin hatte als Mitglied der (in Brasilien konservativen) Sozialdemokraten sehr erfolgreich den wichtigsten Bundesstaat São Paulo geführt. Sein Eintritt in die Lula-Front werteten viele als Zusicherung marktfreundlicher Praktiken. Und vor wenigen Tagen nahm auch Simone Tebet einen Kabinettsposten an. Die Liberale hatte mit ihrer sachlichen und dezidiert antipopulistischen Kampagne fast 5% der Wähler überzeugt, sie zur Präsidentin zu wählen und wurde drittstärkste Bewerberin. Vor der Stichwahl empfahl sie den Wählern ein Votum pro Lula – unter deutlichen Vorbehalten. Diese wird sie nun als Planungsministerin einbringen können.

Von Andreas Fink, Buenos Aires

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