Wiederaufbauprogramm

Italiens verspielte Chance und die Hoffnung auf mehr Geld

Das südeuropäische Land kann die Gelder aus dem Wiederaufbaufonds nicht ausgeben – nicht zuletzt aufgrund der lahmen Bürokratie. Trotzdem fordert die Regierung mehr Mittel aus Brüssel. 

Italiens verspielte Chance und die Hoffnung auf mehr Geld

Italien ist mit einem Gesamtbetrag von 191,5 Mrd. Euro der bei weitem größte Nutznießer des Europäischen Wiederaufbauprogramms über insgesamt mehr als 800 Mrd. Euro in Form von Zuschüssen und zinsgünstigen Krediten. Die Hoffnung war, mit diesem Betrag in dem hoch verschuldeten Land, das die Stabilität der gesamten Eurozone bedroht und seit 20 Jahren unter niedrigen Wachstumsraten und einer stagnierenden Produktivität leidet, einen dringend nötigen Modernisierungsschub auszulösen.

Verzögerte Reformen

Bis dato hat Italien bereits 66,9 Mrd. Euro erhalten. Doch das Belpaese hinkt bei der Umsetzung der mit dem Programm verbundenen Reformverpflichtungen weit hinterher. Italien hat zudem erhebliche Probleme, die Gelder auszugeben. Im Zeitraum 2021/22 werden wohl nur die Hälfte der geplanten Mittel investiert. Die Auszahlung der nächsten Hilfstranche über 19 Mrd. Euro für das zweite Halbjahr ist wegen des Rückstands bei der Umsetzung der Reformen erheblich in Gefahr. Bis Jahresende müssen noch 25 der für 2022 vorgesehenen Reformvorhaben verabschiedet werden: ein fast unmögliches Unterfangen. Die Regierung in Rom bemüht sich dennoch um Optimismus.

Es ist jedoch mehr als zweifelhaft, dass etwa die Liberalisierung des Taximarktes oder der Strandbäder – Themen, die seit Jahrzehnten verschleppt werden – tatsächlich auf den Weg gebracht werden. Auch die Katasterreform wurde verschoben. Fabrizio Pagani, Chefvolkswirt des Assetmanagers Muzinich und Ex-Berater der italienischen Regierung, weist auf einen weiteren Aspekt hin: „Es genügt nicht, Gesetze und Dekrete zu ver­abschieden. Man muss sie auch umsetzen.“ Das Thema wird auch bei der EU-Kommission in Brüssel, die den Stillstand oder gar das Zurückdrehen der Reformen fürchtet, mit Sorge beobachtet.

Offiziell wird der Ball jedoch flach gehalten. Als kürzlich eine Delegation aus Brüssel in Rom war, sickerte wenig über die Inhalte der Gespräche durch. Aber Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), mahnte vor dem EU-Parlament, dass Italien die Reformen des Aufbauprogramms auch durchsetzen müsse: „Das ist eine großartige Gelegenheit, um zu zeigen, dass aus fiskalischer und struktureller Sicht eine starke Entschlossenheit bestehen kann, Italien in eine verbesserte wirtschaftliche Situation zu bringen.“ Nicht zuletzt mit Rücksicht auf Rom hat die EZB ein spezielles Anleihekaufprogramm geschaffen, um Italien im Fall zu großer Renditeunterschiede bei den Bonds unter die Arme greifen zu können.

Ein Grund, warum Pläne nicht umgesetzt werden können, ist die lähmende Bürokratie des Landes mit ihren oft komplexen Abläufen. Dazu kommen viel zu lange Genehmigungs- und Umsetzungsverfahren auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene. Gabriele Menotti Lippolis, Tourismusunternehmer und Präsident des Industriellenverbandes Confindustria in Apulien, klagt gegenüber der Börsen-Zeitung über „ein unentwirrbares Geflecht von Regelungen“, die sich teilweise widersprächen. Dazu kämen „strukturelle und fachliche Defizite“. Gebietskörperschaften vor allem im Süden hätten oft nicht das nötige Personal, um strategische Pro­jekte umzusetzen. Neueinstellungen scheiterten häufig an der fehlenden Expertise junger Bewerber. Andererseits sei das vorhandene und größtenteils überalterte Personal oft überfordert.

Lippolis fürchtet, dass Italien die „einzigartige Chance des europäischen Wiederaufbauprogramms mit den riesigen finanziellen Mitteln nicht nutzen kann“. So fehlt bis heute eine Projektierung der geplanten Hochgeschwindigkeitsverbindung zwischen Salerno bei Neapel und Reggio Calabria. Bei der Ausschreibung für den Bau eines neuen Genueser Hafendamms weit draußen im Meer, der künftig auch den größten Passagier- und Containerschiffen die Einfahrt in Italiens größten Hafen ermöglichen soll und mehr als 1 Mrd. Euro kostet, gab es im Sommer zunächst keinen einzigen Bewerber. Nach mehrwöchiger Verzögerung erhielt schließlich der Baukonzern Webuild den Zuschlag für den Bau des für die Entwicklung des Hafens zentralen Vorhabens. Aber selbst im Fall eines Zuschlags kann der Sieger einer Ausschreibung oft nicht loslegen, weil der unterlegene Kandidat häufig Widerspruch einlegt.

Satt strukturelle Probleme dieser Art endlich anzugehen, schiebt die Regierung Meloni die Schuld für die Verzögerungen lieber auf die Inflation und den Vorgänger Mario Draghi, der zu viele Vorhaben liegen gelassen habe. Das ist zwar teilweise wahr. Die Gründe dafür lagen aber zumindest teilweise auch an Rücksichtnahmen auf die einzelnen Partner seiner von fast allen Parteien getragenen Regierung. Häufig war es gerade die Lega des jetzigen Verkehrsministers Matteo Salvini, die Reformen verhindert hat. Das betraf etwa die Liberalisierung des Wettbewerbsrechts oder die Reform des Katasterrechts. Viel einfacher als die Verpflichtungen umzusetzen und die Gelder vernünftig auszugeben, ist es, von Europa mehr Geld, Änderungen beim Aufbauprogramm und längere Fristen für die Umsetzung der Maßnahmen zu verlangen.

Nachdem sie mit entsprechenden Forderungen zunächst einige Minister hatte vorpreschen lassen, ging Meloni zuletzt selbst in die Offensive. Sie fordert nicht nur Korrekturen beim Aufbauprogramm und eine Aufstockung der Mittel, sondern auch weitere europäische Gelder: „Europa muss mehr machen gegen die gestiegenen Energiepreise“, sagte sie vor einigen Tagen. Gleichzeitig lehnt ihre Regierung als mittlerweile einziges europäisches Land die Ratifizierung des Vertrags über die Schaffung eines Rettungsfonds für Staaten im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ab, weil die Inanspruchnahme der Mittel angeblich die finanzielle Autonomie des Landes gefährdet und an zu strenge Konditionen gebunden ist.

Dass Italien die Mittel des Europäischen Aufbauprogramms nicht ausgeben kann und nur etwa die Hälfte der Mittel aus EU-Regional- und Strukturfonds abrufen konnte, spricht nicht gerade dafür, dass die Forderungen nach mehr Geld berechtigt sind. Die Schulden des Landes sind bis auf 150% des Bruttoinlandsprodukts (2021) gestiegen. Die mit den Hilfen verbundenen Hausaufgaben wurden aber nicht gemacht.

Falsche Prioritäten

Und Meloni wirft Brüssel sogar weitere Knüppel zwischen die Beine. So hebt sie etwa die Obergrenze für Bargeldzahlungen, die Draghi von 2000 auf 1000 Euro gesenkt hatte, nun auf 5000 Euro an und räumt italienischen Händlern das Recht ein, digitale Zahlungen für Transaktionen unter 60 Euro abzulehnen. Das stößt in Brüssel auf Kritik. Denn im notorischen Schwarzarbeiterland Italien werden laut der OECD jährlich rund 100 Mrd. Euro an Steuern hinterzogen. Die EU bemüht sich seit Jahren, Bargeldzahlungen zu limitieren. In Italien kommt man mit Bargeld – möglichst ohne Rechnung – weiter als mit der Karte. Innerhalb der EU steht Italien bei digitalen Zahlungen abgeschlagen nur auf Platz 24. Fabrizio Balassone, Experte der italienischen Zentralbank, bezeichnete im Parlament Bargeldgrenzen als „Hindernis für verschiedene Formen von Kriminalität und Steuerhinterziehung“. Das brachte ihm den Vorwurf von Giovanbattista Fazzolari, Staatssekretär im Kabinett Melonis, ein, die Banca d’Italia vertrete die Interessen der Privatbanken.

Confindustria-Chef Carlo Bonomi beklagt, dass die Regierung die Prioritäten falsch setzt. Statt durch Steuergutschriften und andere Anreize Süditalien zu unterstützen oder durch Umschichtungen im Haushalt eine Steuerreform zu finanzieren, setze Meloni auf Vorruhestandsregeln und eine sozial ungerechte und unfinanzierbare Flat Tax. Auch die Chancen des EU-Aufbauprogramms würden nicht genutzt. Er fürchtet, dass Italien die Mittel daraus nicht ausgeben kann, auch weil die Planungskapazitäten fehlten und es zu wenige Unternehmen gebe, die in der Lage seien, die Projekte zu realisieren.

Von Gerhard Bläske, Mailand

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