Coronakrise

Britische „Pingdemie“ drückt Stimmung

Eine Flut von Selbstisolationen stört Lieferketten, belastet die Erholung und verschärft Engpässe am Arbeitsmarkt. Die Regierung lockert Quarantäneregeln, um die Versorgung der Supermärkte zu stabilisieren.

Britische „Pingdemie“ drückt Stimmung

bet London

Die Kombination aus weitgehend aufgehobenen Corona-Restriktionen und exponentiell wachsenden Infektionszahlen stellt die britische Wirtschaft vor unerwartete Probleme. Der IHS-Markit-Einkaufsmanagerindex fiel im Juli von 62,2 auf 57,7 Punkte und damit den niedrigsten Wert seit März, wie am Freitag gemeldet wurde. Experten hatten mit keiner großen Veränderung des Gesamtindexes gerechnet, der vom 12. bis 21. Juli erhoben worden war. Doch in diesem Zeitraum akzentuierten sich Verwerfungen in vielen Branchen und Lieferketten, weil sich immer mehr Mitarbeiter prophylaktisch selbstisolieren müssen.

Die Befragung zeigte zudem auch einen Rückgang der Geschäftserwartungen auf den niedrigsten Wert seit Oktober 2020. Sorgen wegen der Delta-Variante seien neben dem Brexit und rekordschnell steigenden Kosten ein Schlüsselfaktor, kommentierte IHS Markit. Nach einer deutlichen Erholung im zweiten Quartal werde sich das Wirtschaftswachstum von Juli bis September wahrscheinlich abschwächen. Bei Barclays hieß es, trotz der fortgeschrittenen Impfkampagnen werde das Wiederaufleben von Corona die Konsumenten und Unternehmen vorsichtig machen.

Im Durchschnitt der vergangenen sieben Tage meldete Großbritannien rund 46000 Neuinfektionen, etwa so viel wie Mitte Januar in der Corona-Winterwelle. In den ersten zwei Juliwochen wurden über eine Million Briten von der Covid-App aufgefordert, sich wegen des Kontakts zu einer infizierten Person für zehn Tage in Quarantäne zu begeben. Die Ausfälle durch die „Pingdemie“, wie sie in Anlehnung an die „Ping“-Benachrichtigungen der App genannt wird, treffen zahlreiche Wirtschaftszweige, von der Autoproduktion über die Fleischverarbeitung bis zur Gastronomie.

Fotos von manchen leeren Supermarktregalen veranlassten Premierminister Boris Johnson zum Handeln. Bis zu 10000 Arbeiter in 500 Logistikzentren und Verarbeitungsbetrieben der Lebensmittelindustrie müssen sich nicht mehr isolieren, wenn sie alarmiert werden. Stattdessen sollen sie sich täglich testen lassen, teilte die Regierung am Freitag mit. Auch in wenigen anderen Fällen, etwa bei Rettungsdiensten oder Strom- und Wasserversorgern, werden die Regeln gelockert, sofern die Betreffenden vollständig geimpft sind.

Die Selbstisolationen scheinen Engpässe am Arbeitsmarkt zu verstärken, kommentierte Capital Economics. Der Einkaufsmanagerindex zeige, dass es vor allem Dienstleistungsbetrieben schlechter gelingt, Stellen zu besetzen. Schon in den vorausgegangenen Wochen hatte sich die Lage angespannt: Von April bis Juni waren in Großbritannien insgesamt 862000 offene Stellen gemeldet worden – fast 80000 mehr als kurz vor der Coronakrise. Die Arbeitslosenquote liegt zwar noch höher als vor der Pandemie, sank aber von 5% zu Jahresbeginn auf 4,8% im Mai.