Gabriel Felbermayr

„Dann bricht der EU-Binnenmarkt zusammen“

Der Außenhandelsexperte Gabriel Felbermayr attestiert mangelhafte Vorsorge für Gasengpässe – und erklärt, wie das zu beheben wäre. Außerdem spricht Felbermayr über neue Handelsallianzen und die WTO.

„Dann bricht der EU-Binnenmarkt zusammen“

Stefan Reccius.

Herr Felbermayr, nach zweimaliger Verschiebung wegen der Pandemie wird nun der Ukraine-Krieg den WTO-Gipfel überschatten. Was bedeutet Russlands Isolation für die ohnehin schwer angeschlagene Welthandelsorganisation?

Ich bin schon lange pessimistisch, was die WTO angeht. Donald Trump hat sie beschädigt, die Chinesen haben sie beschädigt, auch die Europäer, indem wir auf die Trump-Zölle mit eigenen Zöllen reagiert haben. Große Sorgen macht mir die Renaissance von Exportkontrollen. Übrigens auch innerhalb der Europäischen Union: Ungarn hat den Export von Weizen gestoppt.

In der Pandemie hielten EU-Staaten Masken und andere Schutzausrüstung zurück – auch Deutschland.

Den Trend zu schädlichen Exportbeschränkungen sehen wir weltweit. Das ist ganz bedenklich. Für Wladimir Putin ist es wunderbar, wenn Ungarn mit seinem Exportüberschuss bei Weizen den Export nicht mehr zulässt und die Preise in der EU und anderswo nach oben treibt.

In der WTO geht es nur über Konsens. Lassen sich so akute Krisen wie die drohende Nahrungsmittelkrise überhaupt abwenden?

Die WTO kann nicht das Forum dafür sein. Es ist gut, dass die Länder sich treffen, aber eine Lösung wird es nur außerhalb der WTO in einem kleineren Kreis geben. Es gibt Länder, die kein Interesse daran haben, dass der Welthandel effizient organisiert ist.

Anhaltende Engpässe in den Lieferketten treiben die Preise. Müssen wir uns angesichts einer allgemeinen Rückabwicklung der Globalisierung auf dauerhaft höhere Inflation einstellen?

Die Preisniveaus bleiben höher, aber nicht zwingend die Steigerungsraten. Am Ende müssen die Notenbanken die Inflation bekämpfen. Aber die Handelspolitik kann zumindest temporär Abhilfe schaffen, indem Stahl- oder Agrarzölle fallen. Mir ist schleierhaft, wie man in dieser Zeit auf dieses einfache Instrument, Zölle abzuschaffen und so die Importpreise zu senken, einfach verzichtet. Welche Berechtigung haben Zölle im transatlantischen Handel überhaupt noch?

Ist die Zeit reif für einen neuen Anlauf für ein transatlantisches Handelsabkommen?

Nein, ein TTIP 2.0 geht viel zu weit. Aber punktuell werden die Argumente für mehr transatlantische Kooperation durch den Krieg stärker. Der militärindustrielle Komplex ist total fragmentiert: USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland – alle machen ihr eigenes Ding. Auf Dauer wird das sehr teuer. Koalitionen wie eine „wirtschaftliche Nato“ stärken die transatlantische Kooperation.

Die Weltwirtschaft zerfällt in zwei Blöcke: einen chinesischen Einflussbereich und einen amerikanischen. Stehen deutsche Unternehmen vor der Entscheidung, mit wem sie künftig noch Geschäfte machen wollen?

Auch den Amerikanern wird es nicht gelingen, sich von China zu entkoppeln. China ist mit 1,4 Mrd. Menschen absehbar die größte Volkswirtschaft der Welt. Man denke auch an Seltene Erden, ohne die unsere Wirtschaft nicht auskommen kann. Dennoch wird es eine Form des Decoup­ling geben. Darunter wird Deutschland leiden. Ein Rückbau der engen Beziehungen zu China bedeutet mehr Produktion vor Ort mit möglichst autarken lokalen Wertschöpfungsketten. Das vermindert Exporte aus Deutschland und beschneidet die Wertschöpfung im Inland.

Werden Osteuropa und die Türkei als Produktionsstandorte noch wichtiger?

Osteuropa eher nicht, wegen demografischer Probleme und des Kriegs. Auch mit der Türkei gibt es Probleme. Mit (Brasiliens Präsidenten) Jair Bolsonaro tun wir uns nicht leicht, aber es spricht jetzt noch viel mehr als vor dem Ukraine-Krieg dafür, das Mercosur-Abkommen abzuschließen. Auch wenn es Elemente hat, die uns nicht gefallen.

Das milliardenschwere Handelsabkommen mit Südamerika ist längst ausverhandelt, aber nicht ratifiziert, und es gibt immer mehr Widerstand in der EU. Der Mercosur-Deal wird in der angedachten Form wohl nicht kommen.

Durch den Ukraine-Krieg haben sich die Bedingungen verändert. Die Ukraine wird als Agrar-Exporteur nicht dieselbe bedeutende Rolle spielen wie in der Vergangenheit. Osteuropa wird insgesamt leiden, wenn Russland dauerhaft die Sicherheit bedroht. Wir müssen sehr pragmatisch schauen, wo wir mit anderen Ländern ins Geschäft kommen, wenn es mit China ein partielles Decoup­ling und mit Russland ein vollständiges Decoupling gibt.

Das gilt erst recht für die Energieversorgung. Deutschland kann absehbar ohne Kohle und Öl aus Russland auskommen. Bei Gas dauert es länger, aber die Speicher füllen sich überraschend zügig. Verliert Putins Waffe im Wirtschaftskrieg ihren Schrecken?

Sie wird täglich stumpfer. Aber genauso klar ist, dass es trotzdem zu Verwerfungen kommen wird, wenn es im November einen Gaslieferstopp gibt. Ich gehe 100-prozentig davon aus, dass wir im Herbst die Macht des Kreml zu spüren bekommen werden, wenn der Krieg nicht vorbei ist und wir weiter Waffen an die Ukraine liefern. Dagegen können wir uns gar nicht genug wappnen. Selbst wenn es gelingen sollte, die Speicher vollzuladen, sind wir nicht über den Berg.

Bei dem vereinbarten Teilembargo auf Öl bröckelt die anfängliche Geschlossenheit in der EU bereits. Droht im weiteren Jahresverlauf eine Zerreißprobe in Europa?

Ja. Beim Gas ist die Situation noch dramatischer als bei Öl, weil die Wirkung eines Lieferstopps in den einzelnen EU-Staaten sehr ungleich ist. Es gibt sogar Länder, die profitieren, weil sie selber Gasreserven haben, zum Beispiel die Niederlande. Diese ganz unterschiedliche Betroffenheit bei Gas macht es schwer, eine Koalition stabil zu halten.

Auch Branchen werden sehr ungleich betroffen sein. Die Folgen eines Gaslieferstopps werden hierzulande sehr kontrovers diskutiert. Wie heftig würde die Rezession?

Wir müssen davon ausgehen, dass einzelne Industrien und darin bestimmte Spezialsegmente stark betroffen sind. Die sind wiederum räumlich konzentriert. Ein Gaslieferstopp ist somit nicht nur für manche Industrien eine existenzielle Bedrohung, sondern gleich für manche Regionen. Und wir wissen, was das politisch auslösen kann.

Was ist jetzt zu tun, damit dieses Szenario nicht eintritt?

Zwei Dinge sind wahnsinnig wichtig: Erstens müssen wir uns jetzt darauf verständigen, wie Gas effizient verteilt wird, wenn es knapp wird. Und diese Gaszuteilung muss auf europäischer Ebene geschehen.

Wie soll das gelingen? Es gibt in Europa bislang keine Energieunion.

Wir sollten Anleihen beim europäischen Emissionshandel nehmen. Können Unternehmen einmal zugeteilte Gasbezugsrechte frei handeln, bekommen margenstarke Industrien das Gas. Eine hohe Marge bedeutet ja immer auch hohe Nachfrage und Zahlungsbereitschaft für ein Produkt. So lassen sich auch Lobby-Einfluss und in manchen EU-Ländern Korruption begrenzen. Auf Unternehmensebene lässt sich nun mal am besten entscheiden, wie wichtig Gas ist und wie viel man zu zahlen bereit ist. Bei einer Verteilung am Ministertisch ist die Gefahr hingegen groß, dass entlang eigenartiger politischer Verteilungslogiken gerade den systemisch unwichtigen Wirtschaftszweigen Gas zugeteilt wird, das dann an wichtigerer Stelle fehlt.

Klingt theoretisch sinnvoll, aber sehen Sie Anzeichen, dass über den Sommer ein solches Handelssystem aufgesetzt wird?

Nein. Und das finde ich besorgniserregend. Denn alle Rechnungen basieren auf der Annahme, dass im Falle eines Lieferstopps die Rationierung von Gas effizient gelingt. Andernfalls verschwenden wir viel Gas, weil kleine und gut vernetzte Unternehmen überversorgt werden. Dann wird der Schaden für das Bruttoinlandsprodukt schnell sehr viel größer.

Warum ist ein EU-weit abgestimmtes Vorgehen so wichtig?

Die heimische Wertschöpfung lässt sich maximieren, indem als Erstes Unternehmen abgeschaltet werden, die für den Export produzieren. In Österreich zum Beispiel Autostahl, der als Vorprodukt für Audi Wertschöpfung in Ingolstadt sichert, nicht aber in Österreich. Unternehmen, die primär für die heimische Wirtschaft produzieren, lässt man länger laufen. Wenn alle engstirnig nach dieser Logik verfahren, bricht der Binnenmarkt zusammen.

So einen Verteilungskampf halten Sie für ein plausibles Krisenszenario?

Ich will klarmachen, dass es diese Sorge gibt und wir die jetzt adressieren müssen. Mit einer Maximierung der Wertschöpfung im eigenen Land beschädigen wir uns im Fall der Fälle gegenseitig.

Am Ende kann immer noch der Staat zu Hilfe eilen – hat in der Pandemie auch funktioniert.

Die Politik muss den Unternehmen jetzt schon klarmachen: Falls die Bänder im Winter stillstehen, könnt ihr nicht so generöses Kurzarbeitergeld, grenzenlose Liquiditätshilfen der Förderbank KfW zu Nullzinsen und Steuerstundungen wie in der Coronakrise erwarten. Sonst fehlt jeglicher Anreiz, heute in eine Notfalltechnologie zu investieren, die teuer ist und womöglich nie zum Einsatz kommt. Diese Gemengelage führt dazu, dass wir im November unvorbereitet sind. Deswegen muss die Politik klarmachen: Diesmal gibt es keine Vollkaskoversicherung.

Das Interview führte

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.