Corona-Restriktionen

Ein Hauch von Herdenimmunität

Boris Johnson will in England nahezu alle Corona-Restriktionen aufheben. Bei der Vorgehensweise gegen die Pandemie zeichnet sich eine Wende ab, seitdem Sajid Javid das Gesundheitsministerium übernahm.

Ein Hauch von Herdenimmunität

Von Andreas Hippin, London

Wer die feiernden England-Fans nach dem Sieg im Halbfinale der Fußball-Europameisterschaft in London sah, hätte nicht den Eindruck gewinnen können, dass das Land eines der Epizentren einer gefährlichen Pandemie ist. Tatsächlich sind nach der erfolgreichen Impfkampagne immer weniger bereit, sich an Auflagen zu halten, die ihnen sinnlos erscheinen. Und Premierminister Boris Johnson hat für den 19. Juli die Aufhebung fast aller rechtsverbindlichen Corona-Restriktionen in Aussicht gestellt. Bleibt noch die Quarantänepflicht im Falle eines Kontakts mit jemandem, der positiv getestet wurde. Für Jugendliche und Erwachsene, die bereits zwei Impfdosen erhalten haben, soll sie am 16. August abgeschafft werden.

Nein, mit Herdenimmunität habe das alles nichts zu tun, beteuerte Johnson vor dem mächtigen Verbindungsausschuss des Unterhauses, dem die Vorsitzenden der anderen ständigen Ausschüsse angehören. Schon zu Beginn der Pandemie fiel es seiner Regierung nicht leicht, den Eindruck zu vermeiden, dass sie dem Virus freien Lauf lassen wolle, um die Wirtschaft nicht zu gefährden. Nachdem er selbst an Covid-19 erkrankte, überließ Johnson das weitere Vorgehen Wissenschaftlern und Vertretern des öffentlichen Gesundheitswesens. Doch seit dem Abgang des glücklosen Gesundheitsministers Matt Hancock, der sich nicht an die Kontaktbeschränkungen hielt, die er allen anderen verordnet hatte, hat sich das Machtgefüge verschoben. Schatzkanzler Rishi Sunak fand in Hancocks Nachfolger Sajid Javid einen Verbündeten. Beide sind nicht bereit, weiter eine Zero-Covid-Strategie zu verfolgen. „Wir müssen lernen, damit zu leben, und ohne Angst leben“, hatte Sunak schon im vergangenen Jahr gesagt. Doch Hancock und der Apparat waren stärker. „Wir können nicht in einer Welt leben, in der wir nur an Covid denken und nicht an all die anderen Gesundheitsprobleme, nicht an die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und nicht an die Herausforderungen im Bildungswesen“, sagte Javid zuletzt. Bei vielen Medienvertretern kam das nicht gut an. Doch statt der Regierung Verantwortungslosigkeit vorzuwerfen, sollte man Javid hoch anrechnen, dass er die bislang meist vernachlässigten Opfer des Lockdowns in Betracht zieht: die Krebspatienten, deren Krankheit wegen ausgefallener Vorsorgeuntersuchungen nicht rechtzeitig erkannt wurde, ebenso wie die Schüler, deren Ausbildung monatelang unterbrochen wurde.

Ein neues Buzzword gibt es auch schon: Hybridimmunität. Sie soll sich aus der Immunität der Geimpften und der von der Krankheit Genesenen zusammensetzen. Ein Hauch von Herdenimmunität haftet dem Begriff gleichwohl noch an. Johnson droht ein heißer Sommer, denn die Neuinfektionen werden weiter nach oben schnellen, solange nicht alle Briten vollständig geimpft sind. Mit weiteren Toten ist zu rechnen.