Geldpolitik

EZB zweifelt an Disinflation durch Globalisierung

Die Globalisierung gilt vielen als wesentlicher Treiber für die seit Jahrzehnten niedrigen Inflationsraten weltweit. Die EZB widerspricht nun – und befeuert damit auch die Debatte über die künftige Geldpolitik.

EZB zweifelt an Disinflation durch Globalisierung

ms Frankfurt

Die Globalisierung hat in den vergangenen Jahrzehnten keinen großen dämpfenden Effekt auf die Inflation in den entwickelten Volkswirtschaften gehabt und ist somit kein wichtiger Faktor für die lange Zeit sehr niedrigen Inflationsraten gewesen. Zu diesem Ergebnis kommt die Europäische Zentralbank (EZB) in einer am Dienstag vorab veröffentlichten Analyse aus ihrem neuen Wirtschaftsbericht, der am Donnerstag publiziert wird. „Die Globalisierung scheint keine wesentliche Kraft hinter den disinflationären Trends der letzten Jahrzehnte zu sein“, so das Fazit der Analyse.

Das Ergebnis ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert und interessant. Einerseits widerspricht es Studien, die die Globalisierung – etwa durch das erhöhte Potenzial an billigeren Arbeitskräften weltweit und die dadurch ausgelöste Lohnzurückhaltung – als wichtigen Faktor für den disinflationären Trend der vergangenen Jahrzehnte sehen. Es dürfte damit auch den Diskurs darüber befeuern, inwieweit eine gewisse Rückabwicklung der Globalisierung infolge der Corona-Pandemie zu nachhaltig höherer Inflation führen könnte. Diese These vertritt nicht zuletzt der frühere britische Notenbanker Charles Goodhart in aktuellen, viel beachteten Arbeiten.

Andererseits spielt es genau hinein in die erste umfassende Strategieüberprüfung der EZB seit dem Jahr 2003, die nach einem wegweisenden Strategietreffen des EZB-Rats am vergangenen Wochenende (vgl. BZ vom 18. und 22. Juni) nun allmählich auf die Zielgerade einbiegt. Im Mittelpunkt steht das Inflationsziel von aktuell unter, aber nahe 2% auf mittlere Sicht. Dieses Ziel hat die EZB im Grunde seit Mitte 2013 unterschritten, ehe die Teuerung nun seit Jahresbeginn kräftig zugelegt und im Mai mit 2,0% sogar erstmals seit Oktober 2018 wieder das EZB-Ziel übertroffen hat. Die Euro-Hüter sehen das als temporär an. Die EZB-Volkswirte prognostizieren für 2023 weiter nur 1,4% Inflation.

Die EZB-Experten stützen ihre Einschätzung, dass die Globalisierung kaum verantwortlich sei für den Rückgang der Inflationsraten weltweit, vor allem auf drei Argumente: Erstens habe der starke Rückgang der Inflation in den 1980er Jahren begonnen, als die Globalisierung noch weniger ausgeprägt war, und er sei etwa Mitte der 1990er Jahre zum Stillstand gekommen, als China noch nicht einmal der Welthandelsorganisation WTO beigetreten war. Zweitens stütze der heterogene Einfluss der Globalisierung auf die einzelnen Wirtschaftssektoren – mit stärker disinflationären Kräften in der Industrie – die These, dass die Globalisierung zu relativen Preisveränderungen, aber nicht unbedingt zu einem Rückgang der Gesamtinflation führe. Und drittens: Selbst wenn die Globalisierung als disinflationäre Kraft wirke, seien die geschätzten Auswirkungen wirtschaftlich gering.

Verantwortlich für den zunehmenden Gleichklang der Inflationsentwicklung in den Industrieländern sei weniger die Globalisierung als Faktoren wie gemeinsame Schocks, etwa bei den Rohstoffpreisen, und der Übergang vieler Notenbanken zur Strategie des Inflation Targeting.

„Mit Blick auf die Zukunft könnte eine Umkehrung (oder weitere Verlangsamung) der Globalisierungstrends nur begrenzten Rückenwind für die Inflationsentwicklung bieten“, so die EZB-Experten. Aktuell befinde sich die Globalisierung am „Scheideweg“. Es sei noch zu früh zu sagen, wie sich die Pandemie auf die Globalisierung und die Inflation auswirke.