EU-Ratspräsidentschaft

Gratwanderung mit ehrgeizigem Programm

Emmanuel Macron hofft, sich durch die EU-Ratspräsidentschaft als überzeugter Europäer für die Präsidentschaftswahlen in Stellung zu bringen. Dafür treibt Paris auch umstrittene Projekte voran.

Gratwanderung mit ehrgeizigem Programm

Von Gesche Wüpper, Paris

Für Frankreich hat am 1. Januar ein ganz besonderes Jahr begonnen. Denn die zweitgrößte Volkswirtschaft Europas hat ausgerechnet mitten im Wahlkampf für die im April stattfindenden Präsidentschaftswahlen die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. 2022 müsse ein Wendepunkt für Europa sein, sagte Präsident Emmanuel Macron in seiner Silvesteransprache. Der EU werde vorgeworfen, „gespalten, unfähig zu gemeinsamen Projekten und auf dem Weg in die geschichtliche Irrelevanz zu sein“.

Auch wenn die französische Bevölkerung deutlich europaskeptischer ist als ihre Nachbarn, hat sich Macron ein ehrgeiziges Programm für die Ratspräsidentschaft vorgenommen. Dabei soll es neben Klimaschutz, neuen Budgetregeln, der stärkeren Regulierung von Internetkonzernen auch um Mindestlöhne und eine stärkere strategische Autonomie gehen. Denn Macron setzt sich für ein souveräneres, unabhängigeres und selbstbewussteres Europa ein. Er weiß, dass Frankreich nur so weiterhin eine wichtige wirtschaftliche und außenpolitische Rolle spielen kann. Zwar will er offenbar darauf verzichten, einen speziellen Verteidigungs-Gipfel zu organisieren. Doch das Thema wird eine wichtige Rolle spielen, da Macron hofft, von seinen europäischen Partnern grünes Licht für den Aufbau einer schnellen Eingreiftruppe zu bekommen, um unabhängiger von den USA zu werden.

Paris setzt auf Atomkraft

Macron versucht auch, die EU-Ratspräsidentschaft zu nutzen, um sich als proeuropäischer Kandidat für die heimischen Wahlen in Stellung zu bringen. Dass er dabei vor einer Gratwanderung steht, hat sich bereits am Wochenende gezeigt. Er hatte über dem Grab des unbekannten Soldaten unter dem Triumphbogen anlässlich der EU-Ratspräsidentschaft die Europa-Flagge hissen lassen – was bei rechten Kandidaten prompt für einen Sturm der Entrüstung sorgte. „Eine Provokation“, pestete Marine Le Pen vom rechtsextremen Rassemblement National. „Eine Beleidigung“, schimpfte der noch rechtere Eric Zemmour. Es gehe nicht an, die französische Identität auszuradieren, sagte Valérie Pécresse von den Republikanern.

Manche Beobachter in Frankreich sehen jedoch in dem am 31. Dezember bekanntgegebenen Entwurf der EU-Taxonomie den Fehlstart der französischen Ratspräsidentschaft. Denn dieser Entwurf sieht vor, Investitionen in Atomkraft wie von Frankreich gewünscht unter bestimmten Bedingungen als klimafreundlich einzustufen, genau wie solche in Gaskraftwerke (siehe Berichte auf dieser Seite). Für Frankreich steht viel auf dem Spiel, da es den Bau neuer Atomkraftwerke lancieren und die Lebensdauer seiner bestehenden Reaktoren verlängern will. Darüber hinaus setzt sich Paris seit Jahren für die Einführung einer CO2-Steuer an den Außengrenzen der EU ein, die für energieintensive Importe aus Ländern gelten soll, die nicht wie die EU eine automatische CO2-Bepreisung haben. Wenn das Projekt wie von Frankreich erhofft vor Ende seiner Ratspräsidentschaft vom EU-Rat abgesegnet wird, könnte diese Steuer 2023 in Kraft treten.

Gas geben will Macron auch bei einer stärkeren Regulierung der Internetriesen. Es sei Zeit, endlich im digitalen Wilden Westen für Ordnung zu sorgen, sagte der französische EU-Kommissar Thierry Breton. Die Chancen, dass die Gesetze über digitale Märkte (DMA) und über digitale Dienste (DSA) in den nächsten Monaten angenommen werden, stehen gut. Zwei weitere Texte, die wie von Frankreich gewünscht helfen sollen, die wirtschaftlichen Interessen Europas besser zu verteidigen, könnten ebenfalls unter Frankreichs Ratspräsidentschaft auf den Weg gebracht werden. Der eine zielt darauf ab, den Zugang von Unternehmen zu öffentlichen Ausschreibungen für Unternehmen, deren öffentliche Märkte nicht im selben Maße geöffnet sind, zu begrenzen. Der andere soll helfen, den europäischen Markt besser vor Unternehmen zu schützen, die von massiven staatlichen Subventionen in ihrer Heimat profitieren.