Kolumbien

In der Finanzklemme

Seit einem Monat erschüttern Proteste Kolumbien. Die Demonstrationen haben am 28. April begonnen, nachdem die Regierung versucht hatte, den Steuerfreibetrag zu senken, um die Kreditwürdigkeit des Landes zu erhalten. Das scheiterte. Am 19. Mai...

In der Finanzklemme

af Buenos Aires

Seit einem Monat erschüttern Proteste Kolumbien. Die Demonstrationen haben am 28. April begonnen, nachdem die Regierung versucht hatte, den Steuerfreibetrag zu senken, um die Kreditwürdigkeit des Landes zu erhalten. Das scheiterte. Am 19. Mai entzog S&P Global Ratings dem Land das Investment-Grade-Rating. Nun steckt das 45-Millionen-Einwohner-Land in einer Finanzklemme: Es kann pandemiebedingte Kreditausfälle nicht günstig refinanzieren. Zugang zu Förderprogrammen für ganz arme Länder hat es aber auch nicht – wie viele Regierungen Lateinamerikas.

In Kolumbien ist die Situation eskaliert, weil der konservative Präsident Ivan Duque im letzten Amtsjahr ausgesprochen ungeschickt vorging. Das von ihm erlassene „Gesetz für nachhaltige Solidarität“ hätte vor allem vom Mittelstand finanziert werden sollen, der ohnehin in einer prekären Lage steckt. Der riesige informelle Sektor protestiert, ebenso Gewerkschafter und Studenten in Sorge um ihre Zukunftsaussichten. Auch viele Gewerbetreibende schlossen sich an, deren Geschäfte in 16 Monaten Pandemie ausgeblutet und deren Ersparnisse aufgebraucht sind.

Die Regierung reagierte mit Härte, verunglimpfte Demonstranten gar als Terroristen. Nun droht die Situation außer Kontrolle zu geraten. Zwischenzeitlich waren 32 Hauptverkehrsstraßen blockiert, mehrere Städte wurden abgeriegelt – und die Forderungen der Demonstranten weiteten sich aus. Längst verlangen sie einen neuen Gesellschaftsvertrag in dem Land, in dem der Wohlstand ungleicher verteilt ist als in fast allen Ländern der Welt.

Obwohl die Regierung ihre Steuerreform zurückzog, mehrere Minister zurücktraten und die Ausrichtung der südamerikanischen Fußballmeisterschaft abgegeben wurde, marschieren die vorwiegend jungen Demonstranten weiter. Sie verlangen den Kopf des Verteidigungsministers Diego Molano, weil mehr als 50 Menschen bei Einsätzen der Sicherheitskräfte ums Leben gekommen sind. Demonstrationen und Blockaden kosten das Land laut Finanzministerium 132 Mill. Dollar pro Tag. Analysten sagen voraus, dass sich die anvisierte Erholung nach dem Rekordeinbruch von 6,8% 2020 verlangsamen dürfte.

Unterdessen ist die Pandemie keineswegs kontrolliert. Mehr als 78000 Menschen starben nach offiziellen Angaben an oder mit Corona. Die Regierung setzt beim Impfen auf mehrere Hersteller, darunter Biontech/Pfizer und Sinovac aus China. Trotzdem haben kaum mehr als 6% der Bevölkerung den vollen Impfschutz, knapp 11% haben eine Dosis erhalten.