Karlsruher Richter auf "rechtlichem Neuland"

Bundesverfassungsgericht verhandelt das Tarifeinheitsgesetz - Massen- gegen Spartengewerkschaften - Sorge um Tarifautonomie

Karlsruher Richter auf "rechtlichem Neuland"

Von Stephan Lorz, FrankfurtEs ist eine heikle Abwägungsgeschichte, mit der sich die Verfassungsrichter in Karlsruhe in mündlicher Verhandlung seit gestern beschäftigen: das 2015 verabschiedete Tarifeinheitsgesetz. Es soll dafür sorgen, dass trotz konkurrierender Gewerkschaften der Betriebsfrieden in den Unternehmen gewahrt und der Arbeitsprozess nicht durch immer neue Streiks einzelner Abteilungen nachhaltig gestört wird. Dieser Betriebsfriede war einst durch die Rechtsprechung gewährleistet gewesen – bis das Bundesarbeitsgericht diese Haltung 2010 aufgegeben hat.Seither haben sich immer mehr Spartengewerkschaften gebildet, oft auf überschaubar viele Funktionsstellen, was ihnen ermöglicht, mit minimalem Aufwand maximalen Schaden zu erzeugen – und dadurch hohe Lohnsteigerungen zu erstreiten ohne auf die Masse der Kollegen und die Tragfähigkeit des Unternehmens Rücksicht nehmen zu müssen. Eindrücklich ist in diesem Zusammenhang etwa die Rivalität der Lokführergewerkschaft GDL mit der Eisenbahnergewerkschaft EVG. Die Sorge ging um, dass sich noch mehr solche Spartengewerkschaften bilden, was sowohl die Arbeitgeber als auch die Industriegewerkschaften schädigen würde.Das Tarifeinheitsgesetz sieht nun vor, dass bei Überschneidungen von gewerkschaftlichen Zuständigkeiten nur der Tarifvertrag jener Gewerkschaft gilt, die in dem Betrieb die meisten Mitglieder hat. Allerdings steht dem die grundgesetzlich garantierte Koalitionsfreiheit entgegen. Denn können kleine Gewerkschaften ihre Interessen nicht durchfechten, dürften die Mitglieder sich von ihnen abwenden. Das beschneidet faktisch die verbrieften Rechte kleiner Gewerkschaften.Gerichtsvizepräsident Ferdinand Kirchhof sprach zu Beginn am Mittwoch denn auch von “rechtlichem Neuland”. Der Erste Senat müsse “in einem noch nicht geklärten Rechtsbereich Antworten finden”. Die Richter haben sich einen ganzen Fragenkatalog vorgenommen: Geht es der Bundesregierung tatsächlich um mehr Kooperation der Gewerkschaften, oder will man nur die Kleinen verdrängen? Und führt der Zwang zur Tarifeinheit nicht eher zu noch mehr Kampf und Wettbewerb? Mit einem Urteil des höchsten deutschen Gerichts ist frühestens in drei Monaten zu rechnen.Ausschlaggebend könnte das Gesetz bei der Lufthansa-Tochter Eurowings werden. Hier streiten sich Verdi und die Flugbegleitervertretung Ufo um die Tarifhoheit beim Kabinenpersonal. Ufo-Chef Nicoley Baublies spricht sich vehement gegen das Gesetz aus, da sich derzeit Gewerkschaften mit hohen Lohnforderungen gegenseitig überbieten müssten, um möglichst viele Mitglieder anzulocken. “Das führt zu absurden Tarifforderungen, das führt zu mehr Unfrieden.” Früher sei es besser gewesen: “Der Wettbewerb der besten Ideen setzt sich durch und nicht jener, der am meisten Mitglieder hat.”Angewandt worden ist das Gesetz bislang indes noch nicht. Es gibt noch kein Unternehmen, in dem Gewerkschaften die dafür erforderliche Mitgliederzählung durch den Notar eingeleitet haben. Nach Aussage von Ilja Schulz, Chef der Pilotenvereinigung Cockpit, liegt das daran, dass viele Arbeitgeber das Gerichtsurteil aus Karlsruhe abwarten. “Einzelne Fluglinien sagen uns aber schon heute: Wenn ihr nicht einlenkt, dann kann man auch mit einer anderen Gewerkschaft Tarifverträge abschließen.” Geklagt haben fünf Berufsgewerkschaften, darunter die Pilotenvereinigung Cockpit und Ufo.Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) verteidigte das Gesetz in Karlsruhe als Mittel gegen die Entsolidarisierung unter Gewerkschaften. Es sei bedenklich, wenn diese mehr miteinander stritten als mit Arbeitgebern. Vor allem treibt sie die Sorge vor einer Tarifzersplitterung um, was letztlich die Tarifautonomie insgesamt entwertet. Bislang hatten die Arbeitgeber indes selbst zur Schwächung der Tarifautonomie beigetragen, indem sie Unternehmen geholfen hatten, der Tarifbindung zu entfliehen. Nun wendet sich die Entwicklung gegen sie. Auch deshalb hält der Arbeitgeberverband BDA das Gesetz jetzt für richtig.