Ukraine-Krieg

Nato auf De­eskalation bedacht

Nach dem tödlichen Raketentreffer in Polen gilt ein Querschläger der ukrainischen Luftabwehr als wahrscheinliche Ursache. Das machen nach US-Präsident Biden auch Nato und Polen deutlich – aus gutem Grund.

Nato auf De­eskalation bedacht

rec/wf Frankfurt/Berlin

Die Nato sieht in dem tödlichen Raketentreffer auf polnischem Boden keinen Angriff auf ein Mitgliedsland und somit auch keinen Bündnisfall. Zwar macht das westliche Verteidigungsbündnis Russland wegen des Angriffskriegs gegen die Ukraine indirekt für den Vorfall mit zwei Toten verantwortlich. Es gebe aber „keine Hinweise darauf, dass das ein beabsichtigter Angriff war“, sagte Nato-Chef Jens Stoltenberg im Anschluss an eine Dringlichkeitssitzung des Nato-Rats in Brüssel. Auch Polens Regierungschef Andrzej Duda gab Entwarnung.

Am Dienstag war eine Rakete im polnischen Dorf Przewodów eingeschlagen. Zwei Menschen starben. Stoltenberg zufolge ist es wahrscheinlich, dass es sich um einen Querschläger der ukrainischen Luftabwehr handelt, die gegen russische Angriffe mit Marschflugkörpern eingesetzt worden sei. Es gebe auch keine Hinweise, dass Russland offensive militärische Aktionen gegen die Nato vorbereite. Schon US-Präsident Joe Biden hatte es beim G20-Gipfel auf Bali als „unwahrscheinlich“ bezeichnet, dass eine der Raketen aus Russland abgefeuert wurde.

Die Nato und ihr wichtigstes Mitglied USA sind nach dem Zwischenfall somit auf Deeskalation bedacht. In der Frühphase des Ukraine-Kriegs hatte die Nato betont, „jeden Zentimeter“ des Bündnisgebiets zu verteidigen. Die Ukraine ist kein Nato-Mitglied, Polen hingegen schon. Deshalb machten sich während des Gipfeltreffens der führenden Industrie- und Schwellenländer (G20) auf Bali Befürchtungen breit, der Krieg könnte auf andere Länder übergreifen und die Nato in eine direkte Konfrontation mit Russland zwingen. Das sorgte auch an den Finanzmärkten für gewisse Unruhe, nachdem der Kriegsverlauf in jüngster Zeit eher in den Hintergrund getreten war.

Nach Angaben der polnischen Regierung handelt es sich um Luftabwehrraketen des Typs S-300 russischer Bauart. Es gebe aber keinen Beweis für einen Angriff auf sein Land, beschwichtigte Polens Präsident Duda. Es bestehe derzeit keine „eindeutige oder bekannte direkte Gefahr“ für das Land und seine Bürger. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki sagte, er halte Konsultationen nach Artikel 4 des Nato-Vertrags nicht für erforderlich. Dieser sieht engere Konsultationen zwischen den Bündnisstaaten bei einer Sicherheitsbedrohung vor.

Hilfsangebot aus Berlin

Die Bundesregierung zeigte sich bestürzt über den Vorfall. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) telefonierte am Rande des G20-Gipfels mit Duda, teilte Vize-Regierungssprecher Wolfgang Büchner in Berlin mit. Ohne Ergebnisse der laufenden Untersuchung vorwegnehmen zu wollen, sagte Büchner: Ohne den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die massiven russischen Raketenangriffe gegen eine Vielzahl ziviler Ziele in der Ukraine wäre es nicht zu diesem Vorfall gekommen. Ähnlich äußerte sich Außenministerin Annalena Baerbock. „Diese Menschen wären nicht ums Leben gekommen, würde es diesen brutalen russischen Angriffskrieg nicht geben“, sagte Baerbock nach Ankunft bei der Weltklimakonferenz. Auch Nato-Generalsekretär Stoltenberg nahm die Ukraine aus der Verantwortung und sagte, der Vorfall zeige dass der russische Angriffskrieg „gefährliche Situationen“ schaffe.

Das Bundesverteidigungsministerium kündigte in Berlin an, als Sofortreaktion Polen Verstärkung bei der Überwachung des Luftraums mit deutschen Eurofightern anzubieten. Dies könne bereits von diesem Donnerstag an beginnen. Die Jets können von deutschen Luftwaffenbasen aus starten, müssten also nicht verlegt werden. Bereits im Juli hatte es solche Patrouillen gegeben. Zudem verlängerte Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) die Stationierung der Luftverteidigungssysteme vom Typ Patriot in der Slowakei, also an der Ostflanke der Nato, um ein halbes Jahr bis Ende 2023. Aktuell gibt es eine Kooperation mit den Niederlanden. Geprüft werde eine weitere Verlängerung bis ins Jahr 2024, sagte ein Ministeriumssprecher. Darüber hinaus hat Deutschland ein Instandsetzungszentrum für die an die Ukraine gelieferten deutschen Waffen – wie die Panzerhaubitze 2000 oder den Mehrfachraketenwerfer Mars  II – in der Slowakei eingerichtet.

Klare Worte hatten schon tags zuvor die Staats- und Regierungschefs beim G20-Treffen gefunden. Scholz sagte, Russland sei isoliert. In der Abschlusserklärung heißt es, die meisten Mitglieder hätten den Krieg in der Ukraine aufs Schärfste verurteilt und betont, dass er unermessliches menschliches Leid verursache und bestehende Schwachstellen in der Weltwirtschaft verschärfe. Als be­achtlich gilt, dass offenbar selbst China die scharfe Verurteilung des Kriegs nicht verhinderte.