Chile

Rebellion an der Wahlurne

Es war ein Debakel: Mitte Mai verloren die konservativen und marktfreundlichen Parteien alle Möglichkeiten, einen massiven Kurswechsel in der bislang stabilsten Volkswirtschaft der Region zu verhindern. An einem über zwei Tage abgehaltenen Wahlgang...

Rebellion an der Wahlurne

af Buenos Aires

Es war ein Debakel: Mitte Mai verloren die konservativen und marktfreundlichen Parteien alle Möglichkeiten, einen massiven Kurswechsel in der bislang stabilsten Volkswirtschaft der Region zu verhindern. An einem über zwei Tage abgehaltenen Wahlgang entglitt der Rechtskoalition „Chile vamos“ nicht nur die Führung in mehreren wichtigen Regionen und Städten. Sie erlebte auch eine dramatische Niederlage bei der Wahl der Mitglieder jener Versammlung, die in den nächsten drei Jahren eine neue Verfassung ausarbeiten soll. Ein neues Grundgesetz war die zentrale Forderung der rebellierenden Jugend im Herbst 2019. Nun wurde das Gremium gewählt, aber kaum mehr als 40% der Bevölkerung gaben ihre Stimme ab. Diese Abstinenz ging zu Lasten der traditionellen Parteien.

Präsident Sebastian Piñeras Koalition erhielt nur 24% der 155 Sitze und blieb so weit unter dem anvisierten Anteil von einem Drittel, der ein Vetorecht gegen massive Umbrüche bedeutet hätte. Das Mitte-links-Bündnis, das seit 1990 etliche Jahre regiert hatte, kam nur auf 16%. Stattdessen eroberte eine Koalition aus radikalen Linksparteien und Kommunisten 18%. Die größte Gruppe stellen mit 42% Unabhängige – darunter viele Protagonisten der Rebellion von 2019, die dem Status quo sehr kritisch gegenüberstehen.

Die Finanzmärkte stießen reflexartig chilenische Papiere ab. Kurz nach dem Urnengang fielen Aktien um durchschnittlich 10%. Inzwischen zeigt der chilenische Aktienmarkt die schwächste Performance weltweit in diesem Jahr. Der chilenische Peso hat hingegen weniger als 5% verloren, was manche Beobachter als ermutigendes Zeichen sehen. Analysten verweisen darauf, dass die Linke vor den Präsidentschaftswahlen im November in zwei Lager gespalten sei. Dies und eine deutlich höhere Wahlbeteiligung könnten marktfreundliche Kräfte stärken.

Möglicherweise zum Trumpf für die Regierung wird am Wahltag, dass sie auf eine zügige Impfkampagne verweisen kann. Denn in Chile haben fast 53% der Bevölkerung die erste Impfdosis erhalten, mehr als 40% sind bereits voll immunisiert worden.