China

Schanghai torkelt zurück in die Freiheit

Nach dem Lockdown ist vor dem Lockout: Szenen aus der Metropole Schanghai, die nach zwei Monaten Zwangspause mühsam ins Leben zurückfindet.

Schanghai torkelt zurück in die Freiheit

Von Norbert Hellmann, Schanghai

Kein Zweifel, die Stimmung war ausgelassen. Zum 1. Juni ist der weltweit mit Staunen begleitete harte Lockdown in Schanghai aufgehoben. Nach gut zweimonatigem Stillstand lässt man das öffentliche Leben wieder seinen Gang gehen. Manche haben ein Freudentänzchen hingelegt. Vereinzelt knallten Korken und Feuerwerkskörper. Dazu Jubelschreie und Siegesfäuste. Ein dankenswerter Kontrast zu vergangenen Monaten, in denen schrille Laute und hochgereckte Arme Angst einjagten, weil sie nur Gesten der Verzweiflung sein konnten.

Nun ist die Stadt, in der es auch nachts nie still ist, akustisch die alte. Pedantisch pünktlich um Mitternacht wurden alle Barrieren abgebaut und die Doppeldecker-Hochstraßen und Stadtautobahnen freigegeben. Kaum eine Stunde später war es wieder da: das Grundrauschen einer 25-Millionen-Metropole auf Achse. Nach der langen stillen Phase nimmt man es plötzlich wahr, schon bald wird es vom Großstädtergehirn wieder sublimiert.

Der 1. Juni 2022 ist zweifelsohne ein aufregender Tag für die Weltstadt Schanghai. Er wird aber nicht als die große Party-Sause in ihre Annalen eingehen. Dafür gibt es keinen Anlass. Wer für längere Zeit in einem Verließ eingesperrt war, empfindet das „Licht der Freiheit“ sowieso erst einmal als zu grell. Und wer für einige Monate krankheitsbedingt nicht im Job war oder sich einen unverschämt langen Urlaub gegönnt hat, wird dem ersten Arbeitstag eher mit gemischten Gefühlen als mit Jubelarien begegnen.

Für Hunderttausende Schanghaier Kleinunternehmer und Ladenbesitzer ging es erst einmal darum, die Ärmel hochzukrempeln und damit zu beginnen, die verwahrloste Verkaufsstelle und Existenzgrundlage in Schuss zu bringen. Eine Schadensbilanzaufnahme ist kein Launebringer. Für zahlreiche Dienstleister steht die fröhliche Wiederaufnahme der Geschäfte sowieso noch nicht an. Der Ein-Mann-Coffeeshop mit Straßenverkauf, der Blumenhändler von nebenan und der Convenience Store um die Ecke haben die Rollläden wieder oben. Bis aber Restaurantbetriebe, Fitnessstudios und Fußmassagetempel wieder Kundschaft nach innen bitten dürfen, werden noch Wochen vergehen.

Man muss befürchten, dass viele Anbieter gar nicht wieder aufmachen werden. Die negativen Beschäftigungsfolgen des Lockdowns sind beileibe noch nicht absehbar. Immerhin schafft die bizarre Covid-Zero-Strategie des Staates neue Arbeitsstellen mit garantiert regem Kundenkontakt. In Schanghai wurden bereits rund 5000 kioskähnliche Glaskabinen aufgestellt, die nun als lokale Corona-Teststellen fungieren. Weitere 5000 sollen in Kürze hinzukommen.

Die Corona-Häuschen sind nun das eigentliche pulsierende Herz im aufgewachten Schanghai. Jeder Bürger muss zunächst im Rhythmus von 72 Stunden dort einen PCR-Test-Abstrich vornehmen lassen, um seinen auf dem Handy hinterlegten Gesundheitscode dauerhaft auf Grün zu halten. Dies ist unerlässlich, um in irgendeiner Form am gerade wiedererweckten öffentlichen Leben zu partizipieren. Ohne grünen Status kein Zutritt zu öffentlichen Verkehrsmitteln und kein Einlass in Supermärkte oder Büros.

Exakt 72 Stunden nach dem letzten Abstrich läuft die PCR-Uhr wieder ab. Wer nicht rechtzeitig – das heißt zwölf Stunden früher – am Covid-Kiosk war, wird von der Health-App gnadenlos zum Aussätzigen gestempelt. Er darf weder U-Bahn fahren noch shoppen gehen oder sonst etwas. Und wenn es dumm läuft, kann er nicht einmal mehr nach Hause gehen, sich die Decke über den Kopf ziehen und die freie Welt da draußen einfach vergessen. In den meisten Wohnanlagen stehen Wachen an den Eingangstoren. Sie haben bis zum 31. Mai dafür gesorgt, dass niemand heraus darf. Nun sorgen sie dafür, dass niemand ohne grünen Code herein darf. Egal ob er dort wohnt oder nicht. Der Lockdown ist zu Ende, der Lockout hat erst begonnen.

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