Handelsgipfel

Wie Indien den WTO-Gipfel in Atem hält

Mit ihrer Verhandlungstaktik bei der Welthandelsorganisation treibt die indische Delegation ein risikoreiches Spiel. Was treibt Handelsminister Piyush Goyal an?

Wie Indien den WTO-Gipfel in Atem hält

Von Stefan Reccius, Genf

Bekommt Piyush Goyal, was er sich zum Geburtstag gewünscht hat? Diese Frage treibt die Teilnehmer des WTO-Gipfels in Genf um. Denn Indiens Handelsminister, der am Montag 58 Jahre alt geworden ist, könnte zum Spielverderber der Welthandelsorganisation (WTO) werden. Seine Wunschliste ist lang – und Goyal scheint bereit, bis zum Äußersten zu gehen, um sich mit seinen Forderungen durchzusetzen.

Von Stunde zu Stunde steigt in Genf die Nervosität, dass die WTO-Ministerkonferenz zu einem schweren Rückschlag für den freien und regelbasierten Welthandel wird. Streit und Handelskonflikte kamen in bald 30 Jahren immer wieder vor. Doch dass die WTO-Mitglieder nicht wenigstens übereinkommen, neue Zölle und Handelsbarrieren grundsätzlich auszuschließen, das hat es so noch nie gegeben.

Das könnte sich nun ändern: Falls ein jahrzehntealtes Moratorium für Zölle auf den Austausch elektronischer Daten fällt. Indien sträubte sich am Dienstag unverändert gegen eine Verlängerung. Und nicht nur hier: Dem Vernehmen nach macht Indien Vorbehalte in allen wesentlichen Punkten geltend. „Sie wollen den Preis hochtreiben“, heißt es.

Inder rechtfertigen sich

Indien geht es vor allem um Zugeständnisse beim Abbau von Subventionen in Landwirtschaft und Fischerei. Hinter vorgehaltener Hand wirbt ein Mitglied der indischen Delegation um Verständnis: Man müsse die vielen kleinen Farmer und Fischer im Land schützen, die oftmals von der Hand in den Mund lebten. Das dürfe für sie nicht zum Verlustgeschäft werden. Indische Behörden kaufen deshalb massenhaft Nahrungsmittel zu Mondpreisen auf und lagern sie ein. Allerdings, so Vorwürfe etwa aus Brüssel, würden die subventionierten Nahrungsmittel nicht nur als Vorräte für schlechte Zeiten genutzt, sondern gelangten teilweise auf die Weltmärkte – wo sie zur unfairen Konkurrenz für andere werden.

Um Zugeständnisse zu erreichen, scheuen sich die Inder nicht, andere Themen als Druckmittel einzusetzen. Das ist der allgemeine Eindruck auf den Fluren des WTO-Hauptquartiers und in umliegenden Hotels, wo Delegationen hinter verschlossenen Türen über mögliche Deals beraten. Besonders deutlich wird Indiens Verhandlungstaktik bei der notwendigen Reform der Streitschlichtung. Im Prinzip herrscht Einigkeit, diese Woche eine Agenda auf den Weg zu bringen, um die WTO-Regeln zu modernisieren und den Streitbeilegungsmechanismus wiederzubeleben, der durch die USA blockiert ist. „Es ist auch in Indiens Interesse, dass die Streitschlichtung vollumfänglich funktioniert“, sagt eine hohe Beamtin der EU-Kommission. Doch aus den Verhandlungen dringt nach außen, dass Indien als einziges Land Vorbehalte hat – wegen einer formalen Petitesse, wer in Genf für Reformvorschläge zuständig sein soll.

Das Problem für die anderen WTO-Mitglieder ist: Was Vorwand ist und was ernstes Anliegen, darüber lassen die Inder ihre Kollegen im Ungefähren. Das wird am Dienstagmorgen bei einer Pressekonferenz mit WTO-Chefin Ngozi Okonjo-Iweala deutlich. Auf dem Podium präsentiert die Nigerianerin die Grundzüge eines Hilfsfonds, um Entwicklungsländer beim Abbau umweltschädlicher Fischereisubventionen zu unterstützen. Gegen Ende wird auch sie mit der Frage konfrontiert, wie es um die Wünsche von Indiens Handelsminister Piyush Goyal steht. Okonjo-Iweala weicht aus, indem sie die Frage ins Plenum weiterleitet, wo Vertreter der indischen Delegation sitzen. Doch die bleiben stumm.

Handelsgespräche in Brüssel

Auf radikale Weise macht sich die indische Delegation zunutze, dass bei der WTO Einstimmigkeit gefragt ist: Nichts ist beschlossen, bevor alle 164 Mitglieder an Bord sind. Das ist umso schwieriger, je mehr die Bereitschaft zu internationaler Zusammenarbeit bröckelt. Im Wissen darum treibt Indien das Konsensprinzip auf die Spitze.

Bis zum letzten Verhandlungstag an diesem Mittwoch will das Land seine Karten nicht offen auf den Tisch legen. Wird Indien einlenken, um einen Kompromiss beim umstrittenen Umgang mit Impfstoff-Patenten zu ermöglichen? Erklärungen zur globalen Ernährungssicherheit mittragen? Das E-Commerce-Moratorium beibehalten?

Selbst wenn Indien einlenkt, ist ein Zerwürfnis nicht vom Tisch: „Sie haben einen sehr freimütigen Minister, der kein Blatt vor den Mund nimmt“, heißt es in Verhandlungskreisen. „Das erlaubt anderen, sich hinter Indien zu verstecken.“ Soll heißen: Ist Indiens Widerstand erst mal gebrochen, könnte es noch von anderer Seite Probleme geben.

Viel Zeit bleibt nicht mehr. Am Freitag wird Piyush Goyal in Brüssel erwartet. Bringt er vorher den WTO-Gipfel zum Scheitern, wäre das eine schwere Bürde für Handelsgespräche mit der EU-Kommission.

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