Schanghai

99 rote Luftballons – und ein sehr verdächtiger weißer

Zum Abschluss der mehrwöchigen Festivitäten zum chinesischen Neujahr, gilt es die überall aufgehängten Lampions zu bestaunen und sich romantischen Gefühlen hinzugeben. Bei der diesjährigen Auflage am Sonntag war das mit den romantischen Gefühlen schwierig.

99 rote Luftballons – und ein sehr verdächtiger weißer

Zum Laternenfest in China, dem harmonischen Abschluss der mehrwöchigen Festivitäten zum chinesischen Neujahr, gilt es den Blick nach oben zu richten, die überall aufgehängten Leuchten und Lampions zu bestaunen und sich romantischen Gefühlen hinzugeben. Bei der diesjährigen Auflage am Sonntag war das mit den romantischen Gefühlen schwierig. Denn ein anderer, am Himmel leuchtender Blickfang stand im Mittelpunkt, nämlich ein ballonförmiges Flugobjekt chinesischer Herkunft, das in großer Höhe und mit aufreizend gemächlichem Tempo über die USA hinweg gondelte und aus gänzlich unromantischen, nämlich sicherheitspolitischen Gründen die Gemüter in Wallung brachte.

Das unbemannte Fluggerät hatte am Mittwoch den US-Luftraum betreten und schwebte hoch über Montana und den dortigen Lagerstätten für US-Nuklearwaffenarsenal, so dass es vom US-Verteidigungsministerium als chinesischer „Spionageballon“ gebrandmarkt wurde. Das nahm US-Außenminister Antony Blinken zum Anlass, seinen bevorstehenden Besuch in Peking erst einmal abzublasen. Zum Höhepunkt des Laternenfestes am Sonntagabend hatten Chinesen dann die Qual der Wahl, ob sie sich lieber der traditionellen TV-Gala im Staatsfernsehen mit ihren opulenten Show- und Tanzeinlagen hingeben oder dem feierlichen Abschießen des mutmaßlichen „Spionageballons“ durch das US-Militär medial widmen sollten.

Wie dem auch sei, mit dem Einstich durch die von einem US-Kampfjet abgefeuerte Sidewinder-Rakete ist nicht nur der Ballonhülle jäh die Luft entwichen. Auch vom prallen Optimismus über Chinas glorreiche Rückkehr auf die wirtschaftliche und diplomatische Weltbühne, nach Pekings Ausstieg aus Corona-Restriktionen und pandemischer Abschottung, droht nicht allzu viel übrig geblieben.

An den Märkten ist die vormals stramme Aktienrally zu Chinas Öffnungsperspektiven bereits wie ein Soufflé in sich zusammengefallen. Der für eine rasche Konjunkturerholung in China absolut unverzichtbaren Stärkung des Verbrauchervertrauens tut der Ballonstreit nicht gut. Wenn sich Washington und Peking richtig in der Wolle haben, werten Chinesen dies als potenzielles Hindernis in Sachen Reichtumsmehrung, dem eigentlichen Grundmotiv beim chinesischen Neujahrsfest – und treten beim Konsum erst einmal auf die Bremse.

Politisch scheint die Ballonaffäre einen zwar nur kurzen, aber bemerkenswerten Selbstvertrauensverlust bei Chinas Topriege nach sich gezogen zu haben. Eine ganzen Tag lang hörte man geradezu flehentliche Töne mit der Bitte um Verständnis für ein auf Abwege geratenes ballonförmiges Fluggerät, das rein zivilen Zwecken diene, darunter der Wettererkundung. Der Blinken-Besuch in Peking war von der Parteiführung als glorreiches chinesisches Comeback in Sachen postpandemischer Spitzendiplomatie vermarktet worden und eine Absage absolut unerwünscht. So kam es zum ersten Mal seit Menschengedenken zu einer Art offizieller Entschuldigung wegen eines chinesischen Fauxpas.

„Hast du etwas Zeit für mich? Dann singe ich ein Lied für dich. Von 99 Luftballons auf ihrem Weg zum Horizont (. . .) und dass so was von so was kommt.“ Vor 40 Jahren hat die vom Tonträgerverkauf her gesehen erfolgreichste deutsche Popsängerin Nena ein Lied in den Äther geschickt, das von den Tücken luftgefüllter runder unbemannter Flugobjekte handelt. In dem 1983, also im Kalten Krieg geschriebenen Pop-Hit werden die (nur in der englischen Version explizit als rot bezeichneten Luftballons) von durchgeknallten Generälen als Bedrohung angesehen und mit Kampffliegerstaffeln konfrontiert. Irgendwie – ganz genau erfährt man es nicht – ist dann überall Krieg, und die Welt liegt in Trümmern. Bei der Affäre mit dem weißen chinesischen Ballon muss man hoffentlich nicht gleich an Krieg denken. Was allerdings in Trümmern liegt, ist die Karriere des Chefs der China Meteorological Administration, Zhang Guotai. Chinas oberster Wetterfrosch wurde vom Staatsrat sang und klanglos aus dem Amt geworfen. Das ist auch gut und richtig so. Nach Pekinger Lesart handelte es sich ja nicht um einen Spionage-, sondern um einen Wetterballon. Wenn der das geopolitische Klima belastet, muss einer die Verantwortung übernehmen.

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