London

Der permanente Ausnahme­zustand

Sobald ein paar Tage die Sonne scheint, setzt in Großbritannien die Klimakatastrophenberichterstattung ein. Doch man kann nicht den ganzen Sommer in abgedunkelten Innenräumen verbringen.

Der permanente Ausnahme­zustand

Wenn ein paar Tage lang die Sonne scheint und die Temperaturen steigen, ist das für viele Briten kein Grund zur Freude mehr. Sobald sich ein heißes Wochenende abzeichnet, beginnt eine Klimakatastrophenberichterstattung, in der die Wärme als Vorzeichen des baldigen Weltuntergangs gewertet wird. Es scheint nicht leicht zu sein, Klima und Wetter auseinanderzuhalten. In einem Land, in dem bei jeder Gelegenheit über das Wetter geredet wird, ist das ein Problem. Das Met Office schürte die Hysterie noch mit der Warnung, die Temperaturen könnten nach dem Wochenende erstmals über 40 Grad steigen – obwohl die Meteorologen solchen Höchstwerten nur eine Wahrscheinlichkeit von 30 % beimaßen. Nun wurden bereits vor drei Jahren im Botanischen Garten von Cambridge knapp 39 Grad gemessen, in Heathrow waren es um die 38. Wenn es um die Hitze geht, die man wahrnimmt, machen ein oder zwei Grad zusätzlich auch keinen großen Unterschied mehr. Doch befördern solche Meldungen das Gefühl, sich im permanenten Ausnahmezustand zu befinden. Dabei ist es auch mit noch so ausgefeilten Computermodellen so gut wie unmöglich, das Wetter auf der Insel auf so lange Zeit akkurat vorherzusagen.

Anfangs fühlt man sich noch gut umsorgt, wenn man in öffentlichen Verkehrsmitteln ständig daran erinnert wird, ausreichend Wasser mitzuführen. Schließlich ähnelt eine Fahrt mit der Central Line einem Saunabesuch, nach dem man nicht kalt duschen kann, sondern noch ein paar Stunden im Büro verbringen muss. Doch irgendwann gehen einem die guten Ratschläge auf die Nerven, zumal man sich nicht den ganzen Sommer in abgedunkelten Innenräumen aufhalten will. Auch dürfte nicht jeder in der Lage sein, während der heißesten Stunden jedwede körperliche Anstrengung zu vermeiden. Irgendjemand muss ja auch noch die Arbeit machen, die sich nicht virtuell erledigen lässt. Schlimm genug, wenn sich schon wieder weite Teile des öffentlichen Diensts verabschieden wollen – wie zuletzt in der Pandemie. Die Müllabfuhr ist vielerorts nur noch eingeschränkt tätig, angeblich um die Gesundheit der Mitarbeiter nicht zu gefährden. Die Rettungsdienste stehen nach eigenen Angaben unter „extremem Druck“. Schon seit Beginn der Pandemie begibt man sich besser selbst ins Krankenhaus, statt auf einen Krankenwagen zu warten.

Wenn dann auch noch Jenny Harries auftaucht, die man noch als Direktorin von Public Health England aus den vom Fernsehen übertragenen Pandemie-Pressekonferenzen kennt, kann einem nur mulmig werden. Harries führt jetzt die UK Health Security Agency (UKHSA), die sich mit „Hitzewellen“ beschäftigt, um ihre Existenz zu rechtfertigen. Sollten die Temperaturen tatsächlich über 40 Grad steigen, würde sie „Notfallstufe 4“ ausrufen. Bei „Notfallstufe 3“ sind wir bereits in London. Zu den guten Ratschlägen der UKHSA für diesen Fall gehört, keine Kleinkinder oder Haustiere im geschlossenen Fahrzeug in der Sonne stehen zu lassen. Wie sind die Briten bislang nur ohne solche Tipps über die Runden gekommen? Wie haben sie die Zeiten überstanden, in denen es noch keine Klimaanlagen oder Kühlschränke gab? Ausgerechnet konservative Regierungen haben dafür gesorgt, dass der „Nanny State“ außer Rand und Band geraten ist. Zu den besten Tipps der vergangenen Tage gehört der Rat des „Telegraph“, beim Tragen eines kurzen Anzugs die Krawatte wegzulassen, um nicht vollends wie ein Schuljunge auszusehen.

Oft ist die marode Infrastruktur schon ganz normalen sommerlichen Temperaturen nicht mehr gewachsen. Daran ließe sich etwas ändern, aber dafür müsste man Geld in die Hand nehmen. In Hampshire streuen Schneepflüge Sand, um zu verhindern, dass der Straßenbelag schmilzt. Auf dem Luftwaffenstützpunkt Cranwell wurde die Startbahn zu weich. Die Pilotenausbildung musste Sky News zufolge ausgesetzt werden, weil nicht nur an den Stiefeln der Soldaten, sondern auch an den Reifen der Trainingsflugzeuge Teer klebte. Network Rail warnte bereits, dass es bei „extrem heißen Temperaturen“ Probleme mit den Gleisen geben könnte. Die Anpassung an steigende Temperaturen wird nicht so billig wie die durch Ausrufung von „Notfallstufen“ simulierte Aktivität der Gesundheitsbürokratie.

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