Fußball-WM

Der Sündenfall Katar

Die Fußball-Weltmeisterschaft am Rand der Wüste ist eine Niederlage für Menschen- und Arbeitsrechte. Wandel durch Handel ist gescheitert.

Der Sündenfall Katar

Stell dir vor, es ist Fußball, und niemand schaut zu. Der Wunsch der Gegner der Weltmeisterschaft in Katar wird sich nicht erfüllen. Wenn am 20. November das Turnier mit dem Spiel des Gastgebers gegen Ecuador beginnt, werden Hunderte Millionen Menschen an den Fernsehgeräten sitzen. Es werden aber vermutlich mehr Fußballbegeisterte als vor vier Jahren auf das Zuschauen verzichten oder zumindest mit einem unguten Gefühl oder schlechten Gewissen den Wettstreit um Tore verfolgen. 2018 fand die WM in Russland statt – nach der gewaltsamen Aneignung der Krim.

Auch die Winterspiele in Katar sind ein Sündenfall. Der begann schon 2010 mit der Entscheidung des Weltverbands Fifa für das Emirat, setzte sich mit den katastrophalen Bedingungen für die Arbeiter auf den Stadionbaustellen fort und reicht bis zu den Verletzungen der Menschenrechte. Auf der Entscheidung der Vergabe lastet zudem ein schwerer Korruptionsverdacht. Hinzu kommt, dass es mit geschätzten Kosten von 150 Mrd. Dollar die bisher teuerste WM ist – mit sieben neuen Stadien in dem kleinen Land, in dem die heimische Fußballliga kaum eine Rolle spielt.

Fifa-Präsident Gianni Infantino spricht jedoch schon vor dem Anpfiff der ersten Partie von der besten WM aller Zeiten. Das überrascht nicht, denn der Funktionär, der seit 2016 an der Verbandsspitze steht, ist ein Meister darin, seine Macht zu erhalten. Zu Katar passt, dass Infantino inzwischen einen seiner Wohnsitze in der Hauptstadt Doha hat. Vorgaben für die Arbeitsbedingungen auf den Stadionbaustellen machte die Fifa nicht; ihre Glaubwürdigkeit hat die Organisation ohnehin längst verloren.

Befürworter der WM argumentieren, die Arbeitsbedingungen hätten sich verbessert und generell sei es sinnvoll, Kontakte und Austausch zu pflegen, um auch mit Hilfe von großen Sportveranstaltungen mehr Menschenrechte in einem Land durchzusetzen. Nichtstaatliche Organisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International beklagen dagegen, das Kafala-System in Katar, das Gastarbeiter wie Leibeigene behandelt, sei keinesfalls abgeschafft. Reformen seien bisher allenfalls versprochen worden. Von den Fifa-Sponsoren unterstützten vier, darunter Adidas, den Aufruf an den Verband und Katars Regierung für verbesserte Arbeitsrechte und einen Entschädigungsfonds. Doch das Emirat lehnt eine solche Hilfe ab: Die Forderung nach einem Fonds sei nur ein Werbegag.

Dass Wandel durch Handel lediglich ein Wunschdenken ist, zeigt auch die jüngere Vergangenheit. Die Olympischen Sommerspiele 2008 fanden in Peking statt, die Winterwettbewerbe im Februar dieses Jahres. Doch der Graben zwischen der chinesischen Staatsführung und der westlichen Welt ist so tief wie lange nicht mehr. Und was ist mit Russland? Haben Olympia in Sotschi 2014 und die WM 2018 Wladimir Putin bewogen, mehr Demokratie und Freiheit zu gewähren? Der Überfall auf die Ukraine hat diese Debatte auf brutale Weise erledigt. Ohnehin liegt der Verdacht nahe, das hehre Ziel Wandel durch Handel dient vor allem dazu, finanzielle Vorteile zu rechtfertigen. Der FC Bayern München steht wegen des Sponsorenvertrags mit Qatar Airways sogar in der Kritik eigener Mitglieder.

Ein schwacher Trost bleibt: Schon seit Jahren wird über die WM in Katar berichtet und diskutiert – zumindest in demokratischen Ländern. Auch während des Turniers wird es nicht nur um Fußball gehen. So etwas wie 1978 kann sich nicht wiederholen. Damals fand die WM in Argentinien statt, wo eine Militärdiktatur folterte und mordete. Auch die deutsche Nationalmannschaft verschwieg die schreckliche Situation. Bundestrainer Helmut Schön sagte nur: „Man sollte versuchen, den Sport so unpolitisch wie möglich zu halten.“

Heute liegt die Haltung der Fifa und des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) erschreckend nah an dieser Ignoranz und Naivität: IOC-Präsident Thomas Bach plädiert für eine strikte Trennung von Politik und Sport. Für Machthaber in autokratischen Staaten jedoch sind solche Großereignisse Prestigeveranstaltungen, die aus deren Sicht die Akzeptanz in der Weltgemeinschaft beweisen und das Regime in der Überzeugung unterstützen, anderen Ländern und politischen Systemen überlegen zu sein. Die Situation in Katar wird die Freude an rasanten Spielen und Siegen verderben. Über dem Turnier am Rand der Wüste liegt eine bleierne Trauer wegen vieler, vielleicht Tausender Toten für den Bau der Stadien und wegen missachteter Menschenrechte.