Wall Street

Geld wie Heu

Die US-Großbanken sind die Gewinner des Börsenbooms und der nahenden wirtschaftlichen Erholung. Rekordgewinne prägen bereits die Kultur der Wall Street.

Geld wie Heu

Die Amerikaner haben eine schöne Redensart, wenn es darum geht, gute Gelegenheiten zu nutzen: „Mache Heu, solange die Sonne scheint.“ In den dunklen Straßenschluchten der Wall Street leuchtet diese sprichwörtliche Sonne derzeit besonders hell – auch wenn das für Investmentbanker bedeutet, dass sie die echte Sonne kaum zu sehen bekommen. Junge Talente der Investmentbank Goldman Sachs hatten wegen drohenden Burnouts kürzlich einen Brandbrief verfasst und gefleht, die Wochenarbeitszeit doch auf 80 Stunden zu begrenzen.

Mit den jüngsten Quartalszahlen der großen US-Banken wurde vollends klar, warum die Banker rund um die Uhr beschäftigt sind. An der Wall Street brummt das Geschäft mit Börsengängen, Fusionen und Übernahmen sowie im Wertpapierhandel. Alle im Investment Banking führenden Finanzadressen, von Universalbanken wie J.P. Morgan Chase bis zu den Wertpapierspezialisten Goldman Sachs und Morgan Stanley, meldeten für das Startquartal Rekordgewinne – was übrigens auch die Aktionäre der Deutschen Bank hoffen lässt.

Für Leute, denen beim Jonglieren mit Milliardensummen schwindlig wird, lässt sich der Umfang der gigantischen Heuballen an der Wall Street gut am Beispiel von Morgan Stanley illustrieren, die Investoren mit einer späten Beichte zu Geschäften mit dem Pleite-Hedgefonds Archegos unschön überraschte. Nachdem Archegos vor ein paar Wochen in Schieflage geraten war, hatten die Schweizer Credit Suisse und die japanische Nomura umgehend­ Milliardenverluste eingeräumt. Die amerikanischen­ Investmentbanken schienen dagegen ohne nennenswerte Blessuren davongekommen zu sein. Das war jedenfalls Konsens an der Wall Street ­– bis Morgan Stanley am Freitag gleichsam in einem Nebensatz einen Verlust von fast 1 Mrd. Dollar im Zusammenhang mit dem Debakel nachmeldete. Die Begründung des von den nachhakenden Analysten genervten Morgan-Stanley-Chefs James Gorman war so verblüffend wie entlarvend. Es sei nicht nötig gewesen, die Verluste mit Archegos vorab auszuweisen, weil es nichts am Rekordquartal geändert hätte. In anderen Worten: Eine Milliarde sind in diesen Zeiten Peanuts.

Sausen an der Wall Street gehen freilich immer irgendwann zu Ende. Die Frage ist nur, wann. Der Boom der leeren Spac-Unternehmenshüllen, der das Aktienemissionsgeschäft zuletzt befeuert hatte und bei dem auch die Deutsche Bank eine wichtige Rolle spielt, scheint jedenfalls nachzulassen. Von Katerstimmung ist die Rede. Auch das Archegos-Debakel bietet keinen Anlass zur Beruhigung, wenn man sich klarmacht, dass illustre Adressen einem einst wegen Insiderhandels bestraften, gefallenen Branchenstar ermöglicht haben, hinter den Kulissen ein großes Rad zu drehen.

Anzeichen für spekulativen Überschwang finden sich auch beim von Privatanlegern in Internetforen angeheizten Sturm auf Aktien des unprofitablen Videospielhändlers Gamestop oder beim jüngsten Börsengang von Coinbase. Die nicht einmal zehn Jahre alte Handelsplattform für digitale Währungen kam zum Start auf einen höheren Börsenwert als die Muttergesellschaft der New Yorker Börse. Anleger wetten massiv auf eine schöne neue Finanzwelt von Bitcoin bis Blockchain, die – Hand aufs Herz – bisher bestimmt nur eine Minderheit ohne Hilfe von Wikipedia erklären kann.

Gleichwohl scheinen die Grundlagen des Wall-Street-Booms weiter intakt. Mit den Massenimpfungen in Amerika steigt die Hoffnung auf ein baldiges Ende der Pandemie und eine anhaltende Konjunkturerholung, von der auch die Banken weiter profitieren dürften. Mit dem Billionen-Konjunkturprogramm der Regierung wurden Massenpleiten von Unternehmen und Verbrauchern abgewendet. Die Kreditinstitute lösten entsprechend Rückstellungen für ausfallgefährdete Darlehen auf – der zweite wichtige Grund für die Rekordergebnisse. Die Börse hat diese Erholung zwar bereits vorweggenommen. Der S&P500 befindet sich nach dem Pandemieschock wieder auf Rekordniveau – im vergangenen Jahr getrieben von Technologie­titeln, die von den digitalen Umwälzungen der Pandemie profitierten, und in diesem Jahr von den Finanzwerten. Angesichts niedriger Zinsen und entsprechend mangelnder Anlagealternativen gibt es keinen triftigen Grund für ein abruptes Ende des Aktienaufschwungs.

Investmentbanker, die eine hohe Schlagzahl aushalten, tun dennoch gut daran, ihr Bonusheu ins Trockene zu bringen. Wenn die Sause vorbei ist, wird an der Wall Street nämlich nicht die Arbeitszeit reduziert. Dann werden Banker entlassen.