Tokio

Lieb­gewonnenes Standard­requisit

Obwohl sie offiziell gar keine Masken tragen müssen, wollen viele Japaner die Mund-Nasen-Bedeckungen nicht ablegen. Von den staatlichen Coronahilfen hat ein einziger besonders profitiert – zumindest für kurze Zeit.

Lieb­gewonnenes Standard­requisit

Die Japaner führen gerade eine öffentliche Debatte, die für viele Deutsche wahrscheinlich schwer nachzuvollziehen ist. Es geht darum, unter welchen Umständen auf das Tragen einer Maske verzichtet werden darf. Anders als in Deutschland hat die Regierung in Japan der Bevölkerung immer nur empfohlen, sich vor einer Coronainfektion mit einer Maske zu schützen. So gut wie jeder Japaner trägt seit April 2020 also de facto freiwillig einen Mund-und-Nasen-Schutz – ob am Schreibtisch im Büro, beim Einkaufen in Geschäften oder beim Essen im Restaurant. Aber die Maske bleibt auch auf der Straße, beim Radfahren und selbst im Auto auf Mund und Nase. Ein ganzes Volk betrachtet die Maske als Standardrequisit.

Doch seit dieser Woche sind die letzten pandemiebedingten Be­schränkungen für die Gastronomie aufgehoben. Gesundheitsminister Shigeyuki Goto erklärte, die Menschen könnten ihre Masken nun im Freien abnehmen, ob beim Joggen, Spielen oder Sprechen, wenn sie einen Abstand von mindestens 2Metern einhielten. Was wie eine Revolution klingt, galt jedoch eigentlich schon immer. Daher verwunderte es nicht, dass bei einer Umfrage der Zeitung „Mainichi“ mehr als zwei Drittel der Befragten der Aussage von Goto zustimmten.

Jedoch empfiehlt die Regierung weiter das Maskentragen in geschlossenen Räumen, wenn man mit anderen Kontakt hat. Tatsächlich verzichten trotz Gotos Hinweis bisher nur wenige Japaner auf ihre Maske – drinnen sowieso nicht, aber auch draußen zeigt sich bisher kaum jemand maskenlos. Hat Japan die Maske so liebgewonnen? Oder will kein Japaner der oder die Erste sein, der sie abnimmt? Sicher herrscht hierzulande ein höherer Konformitätsdruck als etwa in Deutschland. Aber vielleicht zeigt sich hierin auch eine weit verbreitete Sorge, dass die Pandemie noch nicht vorüber ist. Zudem halten sich viele Japaner womöglich für infektionsgefährdet, da nur jeder Zweite drei Mal geimpft ist.

Womit wir zu einem jungen Japaner kommen, der sich ebenfalls nicht den gesellschaftlichen Konventionen gemäß verhalten hat. Der 24-Jährige hatte ungerechtfertigte Coronagelder erhalten und für Glücksspiel verwandt, so dass das ganze Geld bald weg war. Hier die Details: Die Stadt Abu in der Präfektur Yamaguchi hatte die Coronazuschüsse für alle Einwohner von insgesamt 46,3 Mill. Yen (340000 Euro) aus Versehen komplett auf das Konto von Sho Taguchi überwiesen. Der Behörde fiel später auf, dass der Mann gar keinen Anspruch darauf hatte, und forderte das Geld von ihm zurück. Nachdem er wochenlang nicht darauf reagiert hatte, verklagte sie ihn. Danach berichtete der 24-Jährige zunächst, er habe sämtliches Geld in Internet-Kasinos verspielt. Dann bat er darum, die Summe abstottern zu dürfen.

Interessanterweise richtete sich die Empörung der Öffentlichkeit, gemessen an den Reaktionen auf Japans wichtigstem sozialem Medium Twitter, nicht nur gegen die unfähige Stadtverwaltung, die viele Protest-Mails und -Anrufe erhielt, sondern am meisten gegen Taguchi. Statt das Geld zurückzugeben, wie es ein guter Bürger getan hätte, war er verantwortungslos damit umgegangen. Dann besaß er auch noch die Dreistigkeit, seinen Fehler einzugestehen, ohne sich dafür zu entschuldigen. Die große Aufregung brachte die Staatsanwaltschaft in Handlungszwang, der Mann wurde verhaftet. Die Anklage wegen Computerbetrugs überzeugte allerdings nur wenige Juristen.

Doch der Bürgermeister der Stadt Abu nannte die Verhaftung „einen Schritt in Richtung Wahrheit“, weil er sie als Druckmittel betrachtete. „Ich halte es für möglich, dass es irgendwo Geld gibt“, meinte Norihiko Hanada und verklagte Taguchi auf 51 Mill. Yen inklusive Anwaltskosten. Der Politiker bewies einen guten Riecher: Taguchi hatte das Geld nämlich in Dutzenden Tranchen an drei Online-Dienste für Auslandszahlungen transferiert. Eine dieser Agenturen zahlte nun umgerechnet 260000 Euro an die Stadt zurück. Bislang blieb jedoch im Dunkeln, ob es sich dabei um das Geld von Taguchi handelte oder die Agentur gezwungen wurde, die Summe zu erstatten, und sie sie sich über ihre Haftpflichtversicherung zurückholen würde.