Krieg gegen die Ukraine

Putins Grenzen

Seit Jahren ist die Ukraine der Boden, auf dem Russlands Präsident Wladimir Putin wiederholt an seine Grenzen gestoßen ist.

Putins Grenzen

Im Russland der vergangenen zwei Jahrzehnte hat sich die – freilich auch in anderen Ländern übliche – Praxis durchgesetzt, Aphorismen der Staatsführung innerhalb des Establishments bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit zu wiederholen und auch damit Konsens mit ganz oben und unbedingte Loyalität zu unterstreichen. Auffällig beliebt wurde jenes Zitat, das entweder Frankreichs Außenminister Talleyrand (1754–1838) oder der damalige Polizeiminister Fouché zu Napoleon ge­sagt haben soll, als dieser den Herzog von Enghien nach Paris verschleppen und ohne Prozess erschießen ließ: „Das ist mehr als ein Verbrechen, das ist ein Fehler.“

Angesichts des Angriffskrieges in der Ukraine, der in Russland unter Strafandrohung öffentlich nicht als Krieg bezeichnet werden darf, mehren sich nicht nur im Ausland, sondern im Inland die Stimmen, die Staatspräsident Wladimir Putin diesen Aphorismus vor Augen halten. Dies gerade deshalb, weil Putin mit seiner Aktion einmal mehr das erreicht, was er hat abwenden wollen.

Schon in den Jahren nach der Orangen Revolution 2004 hatten die unbeabsichtigten Effekte russischer Politik begonnen. Damals, angesichts des kraftmeiernden Gaskonflikts mit der Ukraine, der zu kurzfristigen Lieferschwierigkeiten nach Europa führte, hat Europa sich veranlasst gesehen, eine gemeinsame Energiepolitik zu entwickeln und die Errichtung von Terminals für Flüssiggaslieferungen aus anderen Ländern zu forcieren, was man in Moskau einerseits als Verrat und andererseits als Dummheit wertete. Mit dem kurzzeitigen Angriff auf Georgien 2008 und der Annexion der ukrainischen Krim 2014 hat Moskau die Hinwendung dieser einstigen Sowjetrepubliken nach Westen beschleunigt. Und mit dem jetzigen Angriff auf die Ukraine hat der Kreml nicht nur die Nato, der Frankreichs Präsident Emmanuel Macron noch vor knapp zwei Jahren den „Hirntod“ attestiert hatte, und die ansonsten uneinige EU zu ungeahnter Einigkeit getrieben. Er hat auch einen neuen Rüstungswettlauf losgetreten, der ihn Modellrechnungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft zufolge ruinieren kann wie einst die Sowjetunion. Er hat überdies im Inland einen deutlich stärkeren Widerstand als 2014 in Kauf zu nehmen und losgetreten. Und er hat vor allem in der Ukraine selbst einen ungeahnten Zusammenhalt, Widerstand und inzwischen auch eine Aversion gegen den großen Nachbarn hervorgerufen.

Seit Jahren ist die Ukraine der Boden, an dem Putin wiederholt an seine Grenzen gestoßen ist. Schon bei der Orangen Revolution und bei den anschließenden Wahlen bekam er seinen Wunschkandidaten dort nicht durch. Später, bei den Majdan-Protesten 2014, obsiegten abermals die prowestlichen Kräfte, was Putin als Demütigung empfinden musste.

Die ukrainische Staatsführung hat über all die Jahre nicht immer als professionell geglänzt. Sie war in oligarchischen Strukturen ge­fangen, gelähmt und auf dem Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International erst neulich etwas besser unterwegs als Russland, aber immer noch mit dem Nachbarn im letzten Drittel von 180 untersuchten Ländern.

Aber trotz dieser Strukturen haben in der Ukraine ein Prozess der Staatsbildung und der Aufbau eines eigenstaatlichen Selbstbewusstseins stattgefunden. Nicht zuletzt die russische Annexion der Krim und die von Russland unterstütze Separatistenbewegung in der Ostukraine haben diesen Prozess beschleunigt, so dass heute von einer reifen, erwachsenen Gesellschaft gesprochen werden kann.

Ein wesentlicher Grund für die jetzige Eskalation, die sich klarerweise auch gegen die Ausweitung der Nato richtet, liegt nicht nur in einer gewissen Verhärtung, die Putin Beobachtern zufolge in der zweijährigen corona­bedingten Zurückgezogenheit durchgemacht hat. Er liegt einfach in seinem fundamentalen Unverständnis dieses Wandlungsprozesses der ukrainischen Gesellschaft. Schon bei sich zu Hause hatte Putin ein ähnliches Unverständnis übermannt, als Ende 2011 und Anfang 2012 ungeahnte Massen zu Protesten gegen ihn und sein rückwärtsgewandtes Regime auf die ­Straße gingen. Seither hat er mit jedem Jahr die Daumenschrauben angezogen. Und nun mit einem katastrophalen Krieg auch in der Ukraine.

Der Preis, den die Bevölkerung zahlt, ist ohnehin nicht in Worte zu fassen. Das Risiko, das Putin eingeht, und der Preis, den er zahlt, hat das Moskauer Establishment hingegen in den vergangenen Jahren selbst schon vorformuliert: „Das ist mehr als ein Verbrechen, das ist ein Fehler.“ (Börsen-Zeitung, 2.3.2022)

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