Notiert inSchanghai

Radioaktive Hassliebe

Japan hat erstmals Kühlwasser aus den Fukushima-Reaktoren ins Meer geleitet. Das lässt die chinesische Volksseele hochkochen.

Radioaktive Hassliebe

Radioaktive Hassliebe

Von Norbert Hellmann

Vorsichtig ausgedrückt hat sich die seit jeher fragile und von dezidierter Hassliebe geprägte Beziehungskiste zwischen den beiden führenden ostasiatischen Mächten China und Japan in diesem Sommer nicht gerade gebessert. Seit der Mittagsstunde des 24. Augusts ist vielmehr „High Noon“ angesagt. Zu diesem Zeitpunkt, rund zwölf Jahre nach der Katastrophe im Atomkraftwerk Fukushima, hat Japan damit begonnen, einen ersten Schub aufbereitetes und nach offiziellen Angaben nur noch minimal radioaktiv belastetes Kühlwasser ins Meer zu leiten.

Es geht um 1,3 Mill. Tonnen Kühlwasser – in etwa die Füllmenge von 540 olympischen Schwimmbecken –, die nun zum Entsetzen von ganz China über 30 Jahre hinweg im Meer abgelassen werden. Die Pekinger Regierung hat ihre Empörung über die lange geplante und angekündigte Aktion in den letzten Wochen wohldosiert immer weiter gesteigert und auf Sozialen Meiden so gesteuert, dass sich pünktlich am 24. ein gewaltiger öffentlicher Aufschrei entladen hat.

Ebenfalls auf die Minute genau wurden Importsperren für sämtliche Fischereiprodukte japanischer Provenienz wirksam. Sie müssten nun streng genommen drei Jahrzehnte Bestand haben. Eine spätere Aufweichung des offiziell dem Gesundheitsschutz dienenden Embargos ist freilich nicht ausgeschlossen. Schließlich lässt China alle handelspolitischen Strafaktionen treuherzig mit Qualitätsdefiziten oder Gesundheitsrisiken rechtfertigen. Zuletzt etwa hat sich Peking über einen US-Zwischenstopp des taiwanesischen Vizepräsidenten William Lai geärgert. Prompt stellten die Zollbehörden fest, dass die gerade in Saison befindlichen und hochbegehrten taiwanesischen Mangos von Mehltau befallen sind und aus „Biosicherheitsgründen“ draußen bleiben müssen.

Japanischer Fisch kommt in China also nicht mehr auf den Tisch. Millionen von Chinesen sinnen auf weitergehende Vergeltung und schwören, dass sie – egal von wo die Sushi-Rohware künftig herkommt – nie wieder zum Japaner und schon gar nicht nach Japan selber gehen werden. In der Staatspresse wird genüsslich vorgerechnet, dass der jährliche Ausfuhrwert von Fischereiprodukten nach China zwar nur etwa 600 Mill. Dollar ausmacht, die nachgelagerten Boykotteffekte die japanische Wirtschaft aber mindestens 20 Mrd. Dollar kosten werden.

Bleibt abzuwarten, wie lange der Furor anhält. In Schanghai, einer absoluten Hochburg für japanische Restaurant- und Esskneipenkultur, war für Ende August Totenstille in den entsprechenden Etablissements prophezeit worden. Tatsächlich ist genau das Gegenteil passiert. Sushi-Restaurants, Yakitori-Buden und Kneipen mit Asahi vom Fass hatten Rekordzulauf.

Für den Schanghaier Japan-Food-Liebhaber war es Ehrensache, Abschiedsparty zu feiern und noch einmal richtig reuelos bei der Originalware zuzuschlagen. Auch ein Wochenende später offenbart ein Rundgang im Schanghaier Stadtteil Jing’An, mit dem sich mühelos Dutzende Japan-Bistros auf ihren Auslastungsgrad inspizieren lassen, keine auffälligen Leerstände. Man hat es mit dem Boykott wohl doch nicht so eilig. Ganz anders die Reaktionsgeschwindigkeit der chinesischen Hausfrau. Die hat blitzschnell geschaltet und ist direkt in den Supermarkt gestürmt, um sich den Monstervorrat an garantiert noch nicht verstrahltem Meersalz zu sichern. Das brachte eine kurze, aber spektakuläre Knappheitssituation mit landesweit leergefegten Regalen.

Die Hast ist eher unangebracht, selbst wenn man die Kühlwasserverklappung für gefährlich hält. Es braucht noch viele Monate, bis das erste potenzielle Fukushima-Tröpfchen an Chinas Küste angeschwommen kommt. Und es gibt noch eine gute Nachricht. China hat in den Salzseen der Provinz Qinghai gewaltige außerozeanische Versorgungsquellen. Einer neuen Umschlagsrechnung zufolge garantieren sie, dass Chinas Haushalte über weitere 30.000 Jahre hinweg Wok-Inhalte abschmecken können, ohne an Japan denken zu müssen.

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