Chipmangel

Riskantes Machtgefälle

Kleine Teile, große Probleme. Der Halbleitermangel bremst die globale Autoproduktion. Ein Ende ist nicht in Sicht. Denn die Branche sitzt am kürzeren Hebel.

Riskantes Machtgefälle

Der Chipmangel trifft derzeit fast jede Branche. Selbst Großabnehmer wie Apple haben damit zu kämpfen, wie CEO Tim Cook mehrfach eingeräumt hat. Allerdings trifft das Problem kaum eine Branche so dramatisch wie die Automobilindustrie. Jedenfalls ist nicht bekannt, dass die weltgrößte iPhone-Fabrik in Zhengzhou, in der täglich bis zu 500000 Smartphones produziert werden, außerplanmäßige Werksferien anberaumen musste. Derweil gibt es praktisch keinen Autohersteller, der in diesem Jahr nicht bereits mehrfach für längere Zeit eine oder mehrere Fertigungslinien in Urlaub schicken musste. Und selbst wenn die Produktion wieder läuft, heißt das noch nicht, dass alle Konfigurationen verfügbar sind. Bei manchem Modell verlängert sich allein durch die Auswahl des Head-up-Displays die Lieferzeit um ein halbes Jahr. Bei einigen Modellen ist diese Option derzeit nicht mehr bestellbar.

Jeder Fall für sich betrachtet hat meist scheinbar leicht nachvollziehbare Hintergründe. Macht man einen Schritt zurück, ergibt sich jedoch ein Bild, das der Automobilindustrie kaum gefallen dürfte. Denn das gewohnte Machtgefüge zwischen Herstellern und ihren Zulieferern hat sich mit Blick auf die neuen Partner aus der Hightech-Industrie deutlich verschoben. Während die Halbleiterproduzenten den Autobauern essenzielle Teile liefern, ohne die ein Pkw auf der Höhe der Zeit überhaupt nicht mehr hergestellt werden kann, stellen die Autokonzerne für die Größen des Silicon Valley nur eine kleine Kundengruppe unter vielen dar. Gut ablesen lässt sich das etwa im jüngsten Zwischenbericht von Nvidia. Der US-Grafikchipproduzent hat den Umsatz im zweiten Quartal um mehr als zwei Drittel auf 6,5 Mrd. Dollar gesteigert. Dabei erlöste die Automobilsparte gerade mal 152 Mill. Dollar.

Für die Daimler-Tochter Mercedes ist der kalifornische Konzern, der auf eine Marktkapitalisierung von knapp 550 Mrd. Dollar kommt und damit etwa den sechsfachen Börsenwert des Stuttgarter Automobilbauers, der wichtigste Partner mit Blick auf die Entwicklung einer einheitlichen Softwareplattform sowie die Verbesserung der autonomen Fahreigenschaften. Eine diesbezügliche Partnerschaft mit Bosch hatte Daimler erst vor wenigen Wochen offiziell beendet. Unabhängig davon, ob Nvidia sich bislang als sehr verlässlicher Partner für die Stuttgarter erwiesen hat, ist das Machtgefälle in der Beziehung der beiden Unternehmen dennoch offensichtlich. Denn Mercedes braucht Nvidia, um eine Chance zu haben, im Technologiewettlauf der Automobilkonzerne nicht ins Hintertreffen zu geraten und an Rivalen wie Tesla vorbeizuziehen. Nvidia hingegen macht auch unabhängig vom Mercedes-Deal hervorragende Geschäfte.

Daimlers Beziehung zu Nvidia steht indes nur beispielhaft für zahlreiche ähnlich geartete Kooperationen zwischen großen Tech-Unternehmen und der globalen Automobilindustrie. Abhängigkeiten bestehen für die Branche zwar auch in anderen Bereichen wie der Batterieproduktion. Allerdings dürften die Batteriehersteller, die gerade gigantische Werke rund um den Globus hochziehen, auch keine alternativen Branchen finden, die ihnen ihre enormen Produktionsmengen abkaufen können. Insofern ähnelt die Beziehung der Batterieproduzenten zu den Autobauern deutlich mehr der klassischen Beziehung zwischen Hersteller und Zulieferer. Daher ist die Abhängigkeit hier eine gegenseitige. Im Markt für Mobilfunkchips konkurriert derweil Volkswagen mit Großabnehmern vom Kaliber Apple. Selbst wenn die Wolfsburger jedes verkaufte Auto mit einem solchen Chip ausstatten würden, käme der Konzern aus Cupertino allein für das iPhone bereits auf die 20-fache Bestellmenge. Hinzu kommen zig Millionen Mobilfunkchips für Apple Watch und iPad.

Apple selbst hat die Gefahr dieser Abhängigkeit von der Chipindustrie längst erkannt und deshalb bereits 2010 begonnen, eigene Halbleiter zu entwickeln, die mittlerweile in allen wesentlichen Produkten zum Einsatz kommen. Die Autoindustrie ist davon meilenweit entfernt. In einem Auto kommen deutlich mehr unterschiedliche elektronische Bauteile zum Einsatz als in einem Smartphone. Selbst wenn die Autobauer sich zum Ziel setzen sollten, wie zuvor Apple Halbleiterkompetenz aufzubauen, würde das noch Jahre in Anspruch nehmen. Derweil dürfte sich der Kampf um die kleinen Computerhirne aufgrund der branchenübergreifenden Digitalisierung nur verschärfen. Das gefährliche Machtgefälle zwischen Chipproduzenten und Autoherstellern ist kein vorübergehendes Phänomen. Es wird die Branche über Jahre begleiten.

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