Corona-Öffnungsplan

Strategiewechsel nach Stimmungslage

Die Politik hat mit dem Öffnungsplan ihre Strategie in der Coronakrise gewechselt. Die Wirtschaft vermisst weiterhin Planungssicherheit.

Strategiewechsel nach Stimmungslage

Vermutlich werden wir nun alle in den nächsten Wochen mit dem Corona-Stufenplan herumlaufen, um nachzuschauen, wie, wo und was in der Coronakrise an Öffnung genau erlaubt ist oder womöglich bald wieder geschlossen werden muss. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zeigten sich mit dem grünen, hoffnungsspendenden Papier in der Hand am Mittwoch kurz vor Mitternacht noch so frisch, als kämen sie nach neunstündiger Beratungsrunde gerade von einem Waldspaziergang. Sichtliche Erleichterung stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Immerhin war eine Einigung gelungen. Die Erläuterung des Konzepts konnte sich allerdings wohl nur demjenigen direkt erschließen, der zuvor neun Stunden mitberaten hatte. Klare Orientierung sieht anders aus.

Die Mischung aus Impfung, Schnell- und Selbsttests sowie anhaltenden Abstands- und Hygienegeboten soll nun die schrittweise Öffnung erlauben, die bei viel geringeren Infektionszahlen monatelang verwehrt war. Die Politik des Schutzes von Gesundheit und Menschenleben ist einer Politik nach Stimmungslage gewichen. Daran mag das Superwahljahr seinen Anteil haben, in dem in gut einer Woche die Bundesländer Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz den Auftakt machen. Vor allem aber hat die Bevölkerung es satt, gefühlt eingeschlossen zu sein. Die Wirtschaft macht verständlichen Druck, wieder ihren Geschäften nachgehen zu dürfen. Dabei hat sich die Infektionslage mit dem Coronavirus keineswegs gebessert. Die restriktiven Kontaktbeschränkungen seit Jahresbeginn haben die Zahlen zwar deutlich gedrückt. Mit der Verbreitung der britischen Mutante stagnieren sie zurzeit aber bestenfalls. Wenn Lockerungen jetzt dennoch möglich sind, stellt es beim Blick zurück den Lockdown in Frage und vor allem das Vertrauen in die Politiker, die Verantwortung für diese Entscheidungen tragen.

Eine zentrale Begründung für die bisherigen Durchhalteparolen lag in dem Wunsch nach geradlinigem Handeln. Kein Vor und Zurück sollte es sein. Einmal geöffnete Bereiche sollten auch offen bleiben, um Bürger nicht zu verwirren und der Wirtschaft Planungssicherheit zu geben. Die Deutschen gelten als schwerfällig. Auch dieses Prinzip gilt nun nicht mehr. Geöffnet wird nun früher und bei viel höheren Infektionszahlen als vor kurzem noch avisiert. Immerhin rund 65% der Landkreise liegen über der kritischen 50er Inzidenz, die bislang als Limit im Sinne des Gesundheitsschutzes galt. Geschlossen wird nun auch wieder: Bei exponentiellem Wachstum des Virus auf einen Wert von 100 und mehr wird eine Notbremse gezogen. Rund ein Sechstel der Landkreise fiele nach aktuellem Stand darunter.

Im großen Unterschied zum Herbst wird inzwischen geimpft, wenn auch noch schleppend. Alte und schwerkranke Menschen, die durch das Coronavirus besonders gefährdet sind, dürften bald weitgehend geschützt sein. Auch die Todesrate und die Belegung der Intensivbetten ist nicht mehr so hoch wie noch vor Wochen – beide Punkte sind die zentrale Rechtfertigung, um Freiheitsrechte zu beschneiden. Schnell- und Selbsttests, die nach Einschätzung der Regierung bald ausreichend zugänglich sein und für mehr Sicherheit sorgen sollen, sind ein weiterer neuer und wichtiger Baustein im Öffnungskonzept. Ob dieses Kalkül aufgeht, muss sich nach dem Beschaffungsdebakel in den Bundesministerien bei Masken und Impfstoffen und der schleppenden Auszahlung von Finanzhilfen erst noch erweisen. Als Bürger ab 60 im Januar aufgerufen waren, sich kostenfrei mit drei FFP2-Masken zu versorgen, hingen in den meisten Fenstern von Berlins Apotheken flugs gemalte Schilder: „Wir haben keine“.

Planungssicherheit vermisst die Wirtschaft auch nach dem komplizierten Stufenplan. Viel früher hätten die Unternehmen in die Öffnungsstrategie eingebunden werden können. Gut, dass es jetzt geschehen ist, schlecht hingegen, dass sich wenig von den Vorschlägen im Konzept wiederfindet. Das ernüchtert die Unternehmen. Der Staat, das hat sich in der Krise bestätigt, kann nicht alles allein lösen. Die Wirtschaft ist bereit und vorbereitet, ihre Betriebsärzte beim Impfen einzusetzen. Vom politischen Ansinnen, die Mediziner in den Firmen könnten auch bei engmaschigen Tests helfen, scheint die Wirtschaft überrascht worden zu sein. Die Politik in Bund und Ländern kann in der Krise nur gewinnen, wenn sie die Wirtschaft mit ins Boot holt. Dazu gehört es, sie auf Augenhöhe zu behandeln. Auch dies bildet Vertrauen.