Unterm Strich

Virtuelle HV überfordert die Asset­manager

Um ihre Aktionärsrechte auch in der virtuellen Hauptversammlung wahrnehmen zu können, müssen institutionelle Anleger ihre Abläufe reformieren.

Virtuelle HV überfordert die Asset­manager

Die Telekom hat es als einziger Dax-Konzern schon 2022 gewagt – doch mit Ende der gerade auf Hochtouren laufenden Hauptversammlungssaison wird das virtuelle Format der Aktionärstreffen von den meisten Unternehmen wohl wieder zu den Akten gelegt. Nicht aus Sentimentalität oder Liebe zu den guten alten Familientreffen der Anteilseigner aus vorpandemischer Zeit. Aber der Ende April von der Bundesregierung beschlossene Gesetzesentwurf zur Einführung virtueller Hauptversammlungen erscheint vielen Gesellschaften und ihren juristischen Beratern als bürokratisches Monstrum, das die alten Zöpfe der Präsenz-HV in die virtuelle Welt überträgt, anstatt sie endlich abzuschneiden (vgl. BZ vom 30. April).

Gesetzentwurf buntes Allerlei

Die im Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Grüne und FDP be­kundete Absicht, Online-Hauptversammlungen „dauerhaft unter un­eingeschränkter Wahrung der Aktionärsrechte“ zu ermöglichen, stand Pate beim Gesetzesentwurf. Bei der Umsetzung dieses Ziels solle darauf geachtet werden, „dass die Aktionäre im Falle einer virtuellen Hauptversammlung ihre Rechte ebenso und weitestgehend vergleichbar wahrnehmen können wie bei der Präsenzveranstaltung“, so die Koalitionäre. Abgesehen von einzelnen Besonderheiten der elektronischen Kommunikation sei sicherzustellen, dass alle Elemente der Präsenzversammlung in einer möglichst unveränderten Form in einer virtuellen Versammlung abgebildet werden können.

Angst vor Anfechtungsklagen

So weit die gute Absicht. Das Ergebnis ist freilich ein Gesetzesentwurf, der ein buntes Allerlei aus beiden HV-Formaten zusammenrührt, das im bevorstehenden parlamentarischen Prozess dringender Überarbeitung bedarf. Dies betrifft die Regeln zur Verlagerung von Fragen und Antworten ins HV-Vorfeld, das Frage- und Nachfragerecht in der HV selbst und die Möglichkeiten des Versammlungsleiters, auch die virtuelle HV effizient führen und Missbrauch von Rede- und Fragerecht unter­binden zu können. An Vorschlägen aus der Praxis hierzu wird es nicht fehlen, wie gerade eine hochkarätig besetzte Veranstaltung des Deutschen Aktieninstituts zu diesem Thema gezeigt hat.

Eine zentrale Sorge vor allem der Emittenten scheint zu sein, mit der neuen Praxis der – noch nicht eingeübten – virtuellen HV in ein höheres Risiko von Anfechtungsklagen zu laufen. Wohl nicht zu Unrecht vermutet Marc Tüngler, Hauptgeschäftsführer der Anlegerschutzvereinigung DSW, in den anfechtungsrelevanten Neuerungen den „Elefanten im Raum“. Das ist einerseits nachvollziehbar, wenn man einschlägige Auseinandersetzungen früherer Jahre im Kopf hat und – beispielsweise als juristischer Berater des Emittenten – Verantwortung für eine rechtssichere HV-Organisation trägt. Im Grunde ist dieses Thema allerdings nicht eine Frage der physischen oder virtuellen Form der Aktionärsversammlung, sondern der Gestaltung des Anfechtungsrechts und des in §246a Aktiengesetz geregelten Freigabeverfahrens.

Gefahr von Zufallsmehrheiten

Ebenfalls nicht per se eine Frage der physischen oder virtuellen HV-Form ist die von den Verwaltungen der Emittenten beschworene Gefahr von Zufallsmehrheiten in der Aktionärsversammlung. Da einerseits die internationalen institutionellen In­vestoren ihr Abstimmungsverhalten meist schon zwei Wochen vor der HV festlegen, andererseits der Gesetzesvorschlag für die virtuelle HV auch noch Anträge beispielsweise zu Sonderprüfungen während der HV zulässt, wären dann diese ausländischen Aktionäre bei der Abstimmung außen vor. Die Sorge: Relativ wenige, in der HV live abgegebene Stimmen führen wegen der fehlenden Stimmpakete der internationalen Großaktionäre zu Beschlüssen, die nicht von der Mehrheit der Anteilseigner getragen werden.

Hier ist allerdings zu fragen: Muss der Gesetzgeber auf offenkundige Organisationsdefizite mancher institutioneller Investoren Rücksicht nehmen und deshalb die Aktionärsrechte generell einschränken? Wer vom Gesetzgeber erwartet, dass er die Vorzüge der Digitalisierung auch zur Vereinfachung von Prozessen nutzt und beispielsweise mit der virtuellen HV die Zwei-Wege-Kommunikation und Online-Abstimmungen ermöglicht, muss Gleiches auch von den großen Investoren fordern, die als Treuhänder die Ersparnisse ihrer Kunden verwalten.

Wie passt es zusammen, dass wir zwar große Geldbeträge in Sekundenschnelle sicher rund um die Welt schicken können und mit der Blockchain-Technologie den Aktienhandel revolutionieren, aber Assetmanager und ihre Verwahrbanken Tage brauchen, um Stimmrechte für Hauptversammlungen zu organisieren? Wenn große institutionelle Investoren wie Blackrock oder Vanguard ihren Auftrag ernst nehmen, müssen sie auch die rechtlichen, technischen und personellen Voraussetzungen dafür schaffen, bei absehbar kontroversen Themen und kritischen HV-Verläufen präsent zu sein und live abstimmen zu können. Und in jenen Fällen, wo das nicht möglich ist, wäre dem Stimmrechtsvertreter eben nicht die Enthaltung anzuweisen, wie das bisher oft der Fall ist und was in der Tat Zufallsmehrheiten das Tor öffnet, sondern eine Stimmabgabe im Sinne der Verwaltung.

Vor Grundsatzfragen

Es ist abzusehen, dass nach den jahrelangen Kontroversen um „Say-on-Pay“ und den Abstimmungsniederlagen von Verwaltungen dazu in den Hauptversammlungen als Nächstes bei vielen Gesellschaften mit dem „Say-on-Climate“ die nächsten Auseinandersetzungen mit An­teilseignern ins Haus stehen. Sollten sich dabei aufgrund der fehlenden Handlungsfähigkeit großer Aktionäre aktivistische Minderheitsaktionäre durchsetzen, geht es nicht um einige Millionen Euro mehr oder weniger Gehalt für Vorstände, sondern um Zukunft und Geschäftsmodell des Unternehmens.

c.doering@boersen-zeitung.de

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